Fachpublikation

Alles eine Frage der Haltung? Begabtenförderung in der Kindertagesstätte

Thema

Begabtenförderung in der Kita

Herausgeberschaft

Karg-Stiftung (Hrsg.)

Autoren/Autorinnen

Christine Koop/Markus Riefling

Erscheinungsort

Frankfurt amMain

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Karg-Stiftung

Literaturangabe

Christine Koop/Markus Riefling (Hrsg.): Alles eine Frage der Haltung? Begabtenförderung in der Kindertagesstätte. (= Karg Hefte 10, hrsg. v. der Karg-Stiftung). Frankfurt am Main 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Grundannahme ist, dass Kinder in ihrem individuellen Forschungs- und Erkenntnisdrang anerkannt und gefördert werden sollten – jenseits einer von außen betriebenen Förderung von Erwachsenen, die sich an Statusdenken oder Versagensängsten orientiert. Vielmehr sei es wichtig, von den Kindern selbst und ihren individuellen Entwicklungsbedürfnissen auszugehen. Kindertagesstätten sollten nicht nur ein Betreuungs- und Aufbewahrungsort für Kinder zwischen 0 und 6 Jahren sein, sondern sich vielmehr als Bildungsort verstehen, an dem auch entwicklungsschnelle und besonders begabte Kinder von Anfang an ernstgenommen und gefördert werden.

Die Karg-Stiftung engagiert sich seit vielen Jahren für hochbegabte Kinder. In der Reihe Karg Hefte werden verschiedene Aspekte des Themenbereichs Hochbegabung beleuchtet und Fach- und Sachinformationen aus Wissenschaft und Praxis publiziert.

Im vorliegenden Karg Heft werden aktuelle Anforderungen der Förderung hochbegabter Kinder in der Kindertagesstätte aufgezeigt und in ein frühpädagogisch fundiertes Verständnis inklusiver Begabungsförderung eingeführt. Verfasst wurde das Heft von der Diplom-Psychologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Christine Koop, die das Ressort Frühe Förderung und Beratung der Karg-Stiftung leitet, sowie von dem Diplom-Pädagogen Dr. Markus Riefling, der Bildungsprojekte entwickelt und begleitet und bei der Karg-Stiftung die Projekte im Arbeitsfeld Kindertagesstätte verantwortet hat.

Ausgangspunkt des Verständnisses von Hochbegabung ist, dass eine rein IQ-basierte Definition (Intelligenzquotient von 130 und mehr) im Kitabereich nicht sinnvoll anwendbar erscheint, da sich Intelligenz im Laufe der ersten Lebensjahre eines Kindes noch signifikant verändern kann. Erst ab einem Alter von drei Jahren ließen sich moderate Zusammenhänge zur gemessenen Intelligenz im Schulalter finden, und erst mit den im Grundschulalter erhobenen Werten lasse sich die weitere Intelligenzentwicklung eines Kindes zuverlässig vorhersagen. Um die individuellen Bedürfnisse und Interessen eines Kindes zu erfassen und darauf didaktisch angemessen zu reagieren, sollte in einer Kindertagesstätte auf andere Instrumente zurückgegriffen werden, vor allem auf Beobachtungsverfahren, die das Engagement der Kinder und damit ihr Lernen fokussieren, wie z.B. Bildungs- und Lerngeschichten oder die Leuvener Engagiertheitsskala. Diese Instrumente könnten insgesamt die Stärken und aktuellen Lernthemen von Kindern in den Blick nehmen und auf dieser Basis eine fähigkeitsorientierte Förderung aller Kinder – auch der hochbegabten – ermöglichen.

In der Publikation wird ein dynamischer Begabungsbegriff zugrundegelegt: Demnach sollte sich die Förderung von (besonders) begabten Kindern in der Kindertagesstätte danach richten, dass sich Kinder im Laufe des Lebens entwickeln, ausbilden und verändern können. Begabungsförderung wird als immanenter Bestandteil einer individuellen Förderung aller Kinder betrachtet und somit als zentrale Aufgabe aller Kindertagesstätten. In diesem Verständnis nimmt Begabungsförderung die vielfältigen Begabungen aller Kinder in der Kita in den Blick und ermöglicht ihnen eine individuelle, stärkenorientierte Förderung ihrer jeweiligen Potenziale. Unter einer inklusiven Perspektive wird Begabungsförderung in der Kita bestmöglich als individuelle Begabungsförderung umgesetzt und orientiert sich an den generellen Prinzipien guter pädagogischer Praxis in Kitas für jedes einzelne Kind.

Wichtige Ergebnisse

Grundlagen der Begabungsförderung in der Kindertagesstätte

Die Begabungsförderung in der Frühpädagogik sollte sich an den Prinzipien einer individuellen Förderung orientieren. Als wesentlich für die Umsetzung werden dabei die regelmäßige Beobachtung und Dokumentation von kindlichen Bildungs- und Lernprozessen betrachtet, die ressourcenorientiert die Lernfortschritte des Kindes in den Blick nehmen und seine spezifischen Lernwege, Lernziele und Lernbedürfnisse erfragen und unterstützen.

Folgende Grundlagen spielen dabei eine elementare Rolle:

1. Inklusion und individuelle Förderung

Es wird darauf hingewiesen, dass die Elementarpädagogik aktuell das Lernen von Kindern unter der Perspektive ihrer Persönlichkeit und Individualität in den Blick nimmt und damit den Bezug auf eine „Normalität“ der kindlichen Entwicklung verlässt. Normalität sei nicht mehr Maßstab und Maßgabe (früh)pädagogischen Handelns. Im Fokus stehe nun ein inklusiver Ansatz, der die verschiedenen Individuen unabhängig von ihren physischen, kognitiven, sozialen oder kulturellen Voraussetzungen in den Blick nimmt und in ihrer individuellen Entwicklung unterstützt. Auch die institutionelle Förderung von hochbegabten oder entwicklungsschnellen Kindern sollte daher im pädagogischen Alltag der Kindertagesstätte umgesetzt werden und nicht auf isolierte „Sonderangebote“ beschränkt werden. Ziel sollte es vielmehr sein, Lernarrangements so zu gestalten, dass sie bei jedem Kind eine entwicklungsangemessene Förderung gewährleisten. Die Heterogenität der Gruppe und die (nicht immer leichte) Aufgabe, anregende Lernsettings für alle Kinder zu gestalten, würden damit zum Normalfall.

2. Konstruktivistische Didaktik

Aus der systemisch-konstruktivistischen Perspektive heraus sollten Kinder als eigenaktive Gestalterinnen und Gestalter ihres Lernprozesses betrachtet werden. Erkenntnis- und Lernprozesse seien als individuelle Konstruktionsprozesse zu betrachten, die insbesondere in der frühen Kindheit in konkrete Handlungs- und Anwendungskontexte eingebunden sein müssen. Lernbegleitung, Kontextsteuerung und Perspektivenwechsel seien die wesentlichen Prinzipien zur Ermöglichung und Begleitung kindlichen Lernens.

  • Das Prinzip der Lernbegleitung verfolge weder das Ziel einer direkten Einflussnahme auf den kindlichen Lernprozess, noch werde ein passives Geschehenlassen angestrebt. Vielmehr sollte es darum gehen, im anschlussfähigen Dialog und unter Zuhilfenahme von Irritationen einen aktiven Lernprozess des Kindes zu ermöglichen. Gerade im Spiel ließe sich dieses Prinzip der konstruktivistischen Didaktik in der Kindertagesstätte gut umsetzen.
  • Eine wichtige Rolle spiele auch die Kontextsteuerung, womit alle indirekten Formen der Einflussnahme auf das Lernen gemeint sind: eine lernanregende sächliche Ausgestaltung der Kindertagesstätte, die (dialogische) Beziehungsgestaltung zwischen pädagogischer Fachkraft und Kind sowie die jeweilige Interaktionsgestaltung (Subjekt-Subjekt, Subjekt-Objekt). All das sollte so gestaltet sein, dass alle Kinder in der Kindertagesstätte ausreichende Herausforderungen und Lerngelegenheiten finden.
  • Das Prinzip des Perspektivenwechsels sei in doppelter Hinsicht zu berücksichtigen: zum einen aufseiten der pädagogischen Fachkraft, zum anderen als didaktisches Ziel beim Kind. Somit sollte sich eine Fachkraft auf die Blickrichtung des Kindes einlassen, um seine Weltsicht bzw. Lernausgangslage in Erfahrung zu bringen. Auf dieser Basis könnte die Fachkraft durch Nach- und Hinterfragen auch alternative Erklärungsansätze und Sichtweisen beim Kind ermöglichen. Die Meta-Kommunikation mit dem Kind über seine Lernprozesse könne durch das Prinzip des Perspektivwechsels gefördert werden.

3. Dialogische Grundhaltung

Eine dialogische Grundhaltung von Fachkräften sei geprägt

  • durch einen empathisch und authentisch geführten Dialog mit dem Kind,
  • durch ein echtes Interesse an ihm und seinen Sichtweisen sowie
  • durch wertschätzende Akzeptanz der – sowohl auf Autonomie als auch auf Bezogenheit gerichteten – Bedürfnisse und Handlungen der Kinder.

Wenn sich daraus Spannungen und Konflikte ergeben, sollte die Fachkraft mit Verständnis bzw. zumindest Einfühlungsvermögen reagieren und die Kommunikation mit dem Kind und mit seinen wichtigen Bezugspersonen reflektiert und resonant gestalten. Es sollte nach Möglichkeiten zur „Verifikation“ und „Falsifikation“ gesucht werden, da Kinder durch Reflexion, Kommunikation, Metakommunikation und metakognitive Dialoge mit anderen Kindern oder mit pädagogischen Fachkräften lernen. Insgesamt gehe es in einer begabungsfördernden Kita darum, eine Atmosphäre zu schaffen, die es allen Kindern ermöglicht, ihre individuellen Fähigkeiten einzubringen und ihre Begabungen weiterzuentwickeln.

Kindertagesstätten im Wandel

Festgestellt wird, dass die beschriebenen Grundlagen einer individuellen Begabungs- und Begabtenförderung auf eine stark gewandelte und sich immer noch im Wandel befindliche Kita-Landschaft treffen. Kindertagesstätten seien nicht mehr nur Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen, sondern hätten einen expliziten Bildungsauftrag. Die bildungspolitischen Entwicklungen in den letzten Jahren stellten die Kindertagesstätten zudem vor zahlreiche konzeptionelle Herausforderungen, zum Beispiel Sprachförderung, Qualitätsmanagement, U3-Ausbau und Inklusion. Basis dieser neuen Aufgabenstellungen sei die mit und nach PISA ins öffentliche Bewusstsein getretene Erkenntnis, dass soziale Herkunft und Bildungserfolg eng zusammenhängen. In der Folge sei der frühkindlichen Bildung deutlich mehr Bedeutung beigemessen worden. Bildungspolitik und Bildungswissenschaft seien sich einig, dass in der Kita der Grundstein für eine gelungene Bildungsbiografie gelegt werde und sie somit eine entscheidende Basis für gleiche bzw. gerechte Bildungschancen darstelle.

Dieser Wandel in den Kindertagesstätten wirke sich auch auf die frühe Begabungsförderung aus. Die Notwendigkeit einer individuellen Förderung für die Gruppe der entwicklungsschnellen bzw. besonders begabten Kinder werde zunehmend anerkannt und finde teilweise auch explizit in den Bildungsplänen Erwähnung. Mit dieser Stärkung des Bewusstseins für die Notwendigkeit einer Förderung sei auch der qualitative Anspruch an eine Begabungsförderung in Kindertagesstätten gestiegen. Während die

Förderung besonders begabter Kinder in Kindertagesstätten vor 15 Jahren noch überwiegend ergänzende Kursangebote umfasste, so würden die pädagogischen Fachkräfte heute verstärkt nach Wegen suchen, die Voraussetzungen für eine gelingende individuelle Förderung durch eine insgesamt verbesserte Struktur- und Prozessqualität in ihrer Arbeit zu gewährleisten. Davon könnten letztlich alle Kinder profitieren.

Die Anforderung für Erzieherinnen und Erzieher bestehe vor allem darin, auf der Basis von Grundlagenwissen zum Thema Hochbegabung die pädagogischen Prinzipien ihrer Arbeit zu reflektieren und entsprechend der individuellen Bedürfnisse und Interessen der (hochbegabten) Kinder anzuwenden. Vor diesem Hintergrund sei es für den Erkenntnisgewinn in der frühen Hochbegabtenförderung bedeutsam, dass die aktuellen fachlichen Diskurse und Entwicklungen im Feld der Frühpädagogik immer auch mit Blick auf die Bedürfnisse und Ausgangslagen von besonders begabten Kindern hin reflektiert werden. Dies müsse unter den Vorzeichen inklusiver Förderung erfolgen, da Kindertagesstätten nicht selektiv sondern sozialraumorientiert arbeiten.

Fazit der Beiträge

Die Herausgeber möchten mit der Publikation dafür werben, dass die frühe Begabungs- und Begabtenförderung als eine immanente Aufgabe von Kindertagesstätten wahrgenommen und als selbstverständlicher Bestandteil von Inklusion erkannt wird. Nur so könne der Anspruch des inklusiven Ansatzes erfüllt werden, die Individualität eines jeden Kindes zu achten und seine jeweiligen Bedürfnisse und Fähigkeiten zum Ausgangspunkt für erzieherische und pädagogische Prozesse zu machen.

Die Erfahrungen aus den Projekten würden darauf hinweisen, dass insbesondere die Offenheit und innere Haltung, mit der Fachkräfte dem Thema und den besonders begabten Kindern begegnen, entscheidend für das Gelingen einer inklusiven Begabtenförderung sind. Eine frühe Achtsamkeit für individuelle Stärken und Begabungen eröffne die Möglichkeit, Kinder aus bildungsfernen und unterschiedlichen kulturellen Milieus chancengerecht(er) zu fördern und grundsätzlich eine stärkenorientiertere Haltung in Kindertagesstätten zu etablieren, von der alle Kinder profitieren, auch die hochbegabten.