Studie

Alphabetisierung und Grundbildung am Arbeitsplatz

Thema

Alphabetisierung und Grundbildung von Beschäftigten

Autoren/Autorinnen

Simone C. Ehmig/Lukas Heymann/Carolin Seelmann

Erscheinungsort

Mainz

Erscheinungsjahr

2015

Stiftungsengagement

Stiftung Lesen

Literaturangabe

Stiftung Lesen (Hrsg.): Alphabetisierung und Grundbildung am Arbeitsplatz. Sichtweisen im beruflichen Umfeld und ihre Potenziale. Eine Studie der Stiftung Lesen im Förderschwerpunkt „Arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Mainz 2015.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Hintergrund ist, dass in Deutschland 7,5 Millionen erwachsene Menschen leben, die nicht richtig lesen und schreiben können. Mehr als die Hälfte von ihnen ist erwerbstätig.

Die SAPfA-Studie der Stiftung Lesen untersucht erstmals aus Sicht des beruflichen Umfeldes die Situation funktionaler Analphabeten am Arbeitsplatz, das Klima unter Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzten. Dabei werden auch Ansatzpunkte aufgezeigt, wie in Unternehmen für das Problem sensibilisiert werden kann. Im Mittelpunkt der Studie stehen Branchen und Tätigkeitsfelder, in denen der Anteil funktionaler Analphabeten überdurchschnittlich hoch ist, beispielsweise im Baugewerbe, in der Gastronomie oder der Gebäudereinigung.

Die Studie von Dr. Simone C. Ehmig/Lukas Heymann und Carolin Seelmann (Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen) basiert auf einer qualitativen Untersuchung mit Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen sowie einer standardisierten Befragung von 545 Personalverantwortlichen in Unternehmen sowie 1.618 un- und angelernten Arbeitskräften. Sie kann als bundesweit repräsentativ für Arbeitgeber sowie un- und angelernte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den untersuchten Branchen gelten.

Die Stiftung Lesen setzt sich im Rahmen der Nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland mit ihren Programmen und Projekten wie auch mit wissenschaftlichen Studien dafür ein, Deutschland zum Leseland zu machen, in dem jedes Kind und jeder Erwachsene über die notwendige Lese- und Medienkompetenz verfügt und Lesefreude entwickelt. Die vorliegende Studie soll dazu beitragen, für jedes Mitglied der Gesellschaft geeignete und zugängliche Programme zur Leseförderung zu entwickeln – unabhängig von den individuellen materiellen, kulturellen oder sozialen Voraussetzungen.

Wichtige Ergebnisse

Analphabetismus: Enttabuisierung und Handlungsdruck in Unternehmen

Nach Ergebnissen der Studie ist funktionaler Analphabetismus nicht generell ein verdecktes Problem oder Tabu: 34 Prozent der Beschäftigten wissen von jemandem im Betrieb, der nicht richtig lesen und schreiben kann, weitere 30 Prozent sind sich nicht sicher. Von den befragten Arbeitgebern beschäftigen 42 Prozent mindestens eine Person, die nicht richtig lesen und schreiben kann. Mehr als jeder Dritte weiß über den Analphabetismus von der betroffenen Person selbst. Jeder Vierte ist durch Fehler darauf aufmerksam geworden, die in den Betrieben Probleme verursachen: 41 Prozent der Arbeitgeber sowie 47 Prozent der Kolleginnen und Kollegen nennen unter anderem Mehrbelastungen anderer Beschäftigter und finanzielle Folgen, die aus betriebswirtschaftlicher Sicht vermutlich Handlungsdruck bei den Unternehmen erzeugen.

Chancen für die Platzierung von Angeboten:

Arbeitgeber und Beschäftigte sehen gute Chancen, Alphabetisierungs- und Grundbildungsangebote in Unternehmen zu platzieren. Die große Mehrheit sieht die Ursachen für funktionalen Analphabetismus in schlechten Bildungsvoraussetzungen im Elternhaus und geringen Bildungschancen. Im beruflichen Umfeld besteht Konsens, dass auch Erwachsene noch lesen und schreiben lernen sollten, vor allem in Betrieben, in denen durch funktionalen Analphabetismus bereits Probleme im Arbeitsprozess entstanden sind.

Nach Auffassung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten Betroffene in den Unternehmen aktiv ermutigt werden, ihre Schriftsprachkompetenzen zu verbessern. Die Arbeitgeber zeigten sich grundsätzlich offen für beratende, informierende und vernetzende Angebote.

Grenzen bei der Umsetzung von Maßnahmen

Im beruflichen Umfeld funktionaler Analphabeten nehmen viele Beschäftigte häufig nicht die Notwendigkeit wahr, lesen und schreiben zu können, da sie diese Kompetenzen im Arbeitsalltag nicht brauchen. Wer mit funktionalen Analphabeten zusammenarbeitet, meint besonders häufig, dass diese Personen nicht mehr unbedingt lesen und schreiben lernen müssten. Die Ursache dieser Einschätzung liegt in der Erfahrung, dass Abläufe trotz allem funktionieren, weil Vorkehrungen getroffen werden, zum Beispiel durch das Nutzen von Farbcodes und Symbolen, aber auch durch die Hilfe von Arbeitskolleginnen und -kollegen.

Unternehmen zeigen sich zurückhaltend bei Investitionen in Grundbildungsmaßnahmen, beispielsweise in Form einer Übernahme von Kursgebühren oder einer Freistellung der Beschäftigten von der Arbeitszeit. Auch im kollegialen Umfeld spricht sich dafür nur eine Minderheit aus. Die Mehrheit beider Befragtengruppen ist der Meinung, dass die Kosten – neben dem Staat – die Teilnehmenden selbst tragen und Grundbildungsangebote außerhalb ihrer Arbeitszeiten wahrnehmen sollten.

Diese Zurückhaltung kann nach Auffassung der Autorinnen und Autoren der Studie auf mindestens drei Ursachen zurückgeführt werden:

  • Erstens betrachten die Befragten beider Gruppen das betriebliche Umfeld nur begrenzt dafür zuständig, funktionale Analphabeten zu ermutigen und ihnen zu helfen. Sie sehen die Zuständigkeiten vor allem bei den Familien und Freunden der Betroffenen, womit die Probleme mit Schriftsprachkompetenzen zu einem überwiegend privaten Problem erklärt werden.
  • Zweitens führen viele Vorgesetzte und Kolleginnen und Kollegen mangelnde Schriftsprachkompetenzen darauf zurück, dass sich die Betroffenen nicht ausreichend darum bemüht haben. Diese belastende Zuschreibung von (Mit-)Verantwortung stehe einer unterstützenden Haltung eher im Weg und fördere zudem eine Sichtweise, die die Zuständigkeit für Lösungen in den privaten Bereich verlagere, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
  • Drittes zweifeln mehr als die Hälfte der Kolleginnen und Kollegen sowie Personalverantwortlichen daran, dass die Betroffenen ihre Situation überhaupt ändern wollen.

Fazit

Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren der Studie macht die Analyse deutlich, dass Grundbildung am Arbeitsplatz notwendig und sinnvoll ist. Für die Ansprache, Motivation und Einbindung von Unternehmen in Maßnahmen bestünden gute allgemeine Voraussetzungen und Chancen, weil das Problem bekannt ist, die Betroffenen ernstgenommen werden und gut in das kollegiale Umfeld integriert sind, in dem durchaus ein Bewusstsein für die Notwendigkeit besteht, das Problem zu bekämpfen. Gezielte Maßnahmen zur Grundbildung am Arbeitsplatz könnten dazu beitragen, bestehende Potenziale herauszuarbeiten und zu nutzen, da sowohl unter Arbeitgebern, Kolleginnen und Kollegen und Personalverantwortlichen Offenheit dafür festzustellen ist. Hier gelte es, Anreize zu schaffen, um die aufgeschlossene Haltung des beruflichen Umfelds in konkretes Handeln umzusetzen.

Der konkreten Umsetzung von Maßnahmen seien jedoch Grenzen gesetzt, da die Arbeitswelt der funktionalen Analphabeten scheinbar ohne Lesen und Schreiben auskomme. Das Umfeld grenze Betroffene nicht aus, sondern etabliere vielmehr unterstützende Hilfsmaßnahmen zur Kompensation von fehlenden Schriftsprachkompetenzen. Dies erwecke den Eindruck, dass in den Betrieben keine Probleme auftauchen und funktionale Analphabeten gut zurechtkommen. Dies senke die Wahrscheinlichkeit, dass Unternehmen überhaupt Förderbedarf wahrnehmen.

Perspektiven

Auch wenn Grundbildung am Arbeitsplatz an Grenzen stößt, macht die Studie deutlich, dass die damit verbundenen Potenziale in einzelnen Betrieben bereits erfolgreich genutzt werden. Dies könnte zum Handlungsanreiz für andere Betriebe werden, so eine Schlussfolgerung in der Studie. Künftig sollten Zugangswege, Formen und Themen der Ansprache Grundbildungsbedürftiger spezifischer ausgestaltet werden. Die Daten aus Bildungs-, Bevölkerungs- und Sozialforschung sollten dazu genutzt werden, mehr über die Zielgruppen zu erfahren und sie zielgenau mit themen- und interessenspezifischen Angeboten zu erreichen. Sinnvoll könnte es auch sein, die Ansprache auf persönlichem und beruflichem Wege miteinander zu verzahnen. Zudem wäre es wichtig, Ansätze zur Grundbildung Erwachsener mit präventiven Maßnahmen zu verzahnen, die auf Sprachentwicklung, Lesefreude und Lesekompetenz von Kindern und Erwachsenen abzielen.

Die Stiftung Lesen hat in Betrieben mit einem generationenübergreifendem Ansatz bereits gute Erfahrungen gemacht: Mehr als 1.100 Unternehmen beteiligen sich bundesweit an dem Vorleseservice „Mein Papa liest vor“. Das Beispiel belege, dass in der Ansprache und Aktivierung von Unternehmen Potenziale bestehen. Um sie zu nutzen und auszubauen, bedürfe es jedoch vieler und starker Partner.