Studie

Aufbruch: Gründergeist und soziale Verantwortung

Thema

Gesellschaftliches Engagement der 50- bis 75-Jährigen

Herausgeberschaft

Körber-Stiftung

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2018

Stiftungsengagement

Körber-Stiftung

Literaturangabe

Körber-Stiftung (Hrsg.): Aufbruch: Gründergeist und soziale Verantwortung. Ergebnisse einer forsa-Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung zum gesellschaftlichen Potenzial der 50- bis 75-Jährigen. Hamburg 2018.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass die Menschen in Deutschland nicht nur immer älter werden, sondern auch länger gesund und aktiv bleiben. Die alten Lebensverlaufsmodelle von Ausbildung, Berufstätigkeit, Rente befänden sich in einem tiefgreifenden Wandel und die traditionelle Vorstellung vom Ruhestand sei überholt. Die Wissenschaft könne beobachten, wie die Menschen die dritte Lebensphase nach ihrem Berufsausstieg gestalten.

Ein Blick in die USA zeige die großen Chancen dieser Entwicklung: Dort bezeichne die „Encore Career“ den Aufbruch von einer ersten beruflichen Karriere in einen neuen Lebensabschnitt, in dem die Menschen ihre Talente und Erfahrung zugunsten des Gemeinwohls einsetzen und dafür Arbeit, Unternehmertum und soziales Engagement neu miteinander verbinden. Die Zukunftsfähigkeit einer immer älter werdenden Gesellschaft hänge ganz entscheidend auch davon ab, dass die älteren Menschen ab 50 Jahre ihre Potenziale für die Gesellschaft entfalten wollen und auch können.

Die Körber-Stiftung wirbt für eine positive Sicht auf den demografischen Wandel und einen neuen Umgang mit dem Alter, fokussiert auf die Kompetenzen der älteren Menschen.

In der vorliegenden Publikation stehen die Vorstellungen der 50- bis 75-Jährigen im Mittelpunkt: Worin sieht diese Altersgruppe in ihrer Nacherwerbsphase ihre Verantwortung für die Gesellschaft und ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten? Diese Bevölkerungsgruppe hat schon allein aufgrund ihrer Größe eine hohe gesellschaftliche Relevanz: Die heute 50- bis 75-Jährigen bilden eine große Gruppe von knapp 28 Millionen Menschen, was mehr als einem Drittel der Gesamtbevölkerung entspricht.

Im Auftrag der Körber-Stiftung hat forsa Politik- und Sozialforschung GmbH im Juli 2018 bundesweit 1.521 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger zwischen 18 und 75 Jahren rund um die Potenziale des Alters ausgewählt. Mit Hilfe computergestützter Telefoninterviews wurden 761 Personen der Altersgruppe der 50- bis 75-Jährigen befragt. Um einen Vergleich zu jüngeren Alterskohorten ziehen zu können und mehr über die Erwartungen der jüngeren Generationen an die Älteren zu erfahren, wurden in einem weiteren Schritt 760 18- bis 49-Jährige befragt. Für die Repräsentativität des Generationenvergleichs hat forsa die Ergebnisse entsprechend den Anteilen der jeweiligen Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung gewichtet.

Wichtige Ergebnisse

Ergebnisse der Umfrage

Aus den Antworten der Befragten geht hervor, dass die Altersgruppe der 50- bis 75-Jährigen über großes soziales Kapital verfügt, das in der Rente entfaltet werden kann: Es zeigt sich ein profundes gesellschaftliches Interesse, eine enorme Bereitschaft, auch im Alter zu arbeiten oder sich gesellschaftspolitisch zu engagieren, sowie der Mut, mit Gründergeist im Alter ganz neue Wege zu gehen. Für eine Gesellschaft mit vielen sozialen Herausforderungen und einer alternden Bevölkerung sei es eine gute Nachricht, wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung nach Renteneintritt sich offenbar nicht in den privaten „Ruhestand“ verabschieden möchte, sondern die Chance nutzen, ihr Älterwerden neu zu entwerfen und sich in die Gesellschaft einzubringen. Dies sei mit persönlichem und gesellschaftlichem Gewinn verbunden.

Das soziale Kapital der „neuen Alten“

In der Umfrage zeige sich eine große Bereitschaft der 50- bis 75-Jährigen, nacherwerbliche Lebensplanung und gesellschaftliche Verantwortung zu verbinden. Das soziale Kapital dieser Altersgruppe erweise sich als riesige, wertvolle Ressource für die Zukunft:

  • Gesellschaftspolitischer Weitblick: Mindestens jeweils zwei Drittel der 50- bis 75-Jährigen interessieren sich (sehr) stark für die Themen Wirtschaft, Politik, Umweltschutz. Im Vergleich zu den jüngeren Generationen sind diese Werte hoch.
  • Wertvolle Soft und Hard Skills: Mit dem Alter wächst das Bewusstein für die eigenen Kompetenzen. Die Befragten beobachten bei sich Verbesserungen zum Beispiel in Bezug auf Menschenkenntnis, ihren Blick fürs Wesentliche, Fachwissen und ihre Fähigkeit zu strukturierter Problemlösung.
  • Selbstbewusstsein und Selbstverpflichtung: Die große Mehrheit der 50- bis 75-Jährigen ist sich einig, dass Lebenserfahrung und Kompetenzen älterer Personen wichtig für die Gesellschaft sind. 88 Prozent halten dieses Potenzial, gesellschaftliche Veränderung zu bewirken, für unterschätzt. Beide Auffassungen teilen die jüngeren Generationen mit den Älteren. Mehr als die Hälfte der über 50-Jährigen sieht für den Ruhestand eine besondere gesellschaftliche Verantwortung.
  • Hohe Engagementbereitschaft: 42 Prozent der 50- bis 75-Jährigen planen ganz konkret, sich im Ruhestand für andere und die Gesellschaft zu engagieren. Von denjenigen, die bereits in Rente sind, tun dies sogar 44 Prozent.
  • Bereitschaft zur Arbeit im Alter: 67 Prozent der 50- bis 75-Jährigen können sich vorstellen, länger als gesetzlich vorgesehen zu arbeiten. Unverzichtbar ist für diese Gruppe jedoch, dass sie Spaß an der Arbeit haben (83 Prozent). Motivationssteigernd fänden es diese Befragten, wenn sie mit ihrem Engagement anderen helfen können (53 Prozent).
  • Lust auf einen Neustart: Knapp 80 Prozent der 50- bis 75-Jährigen trauen sich zu, im Alter etwas ganz Neues zu wagen. 34 Prozent haben das schon getan oder haben es fest vor.
  • Sozialer Gründergeist: Um zugunsten der Gesellschaft zu wirken, würde knapp die Hälfte der neuen Alten sogar selbst gründen und eigene Organisationen aufbauen. Dabei sind Projekte und Initiativen beliebter als Vereine oder Stiftungen.

Die Körber-Stiftung leitet aus den Umfrageergebnissen sechs Thesen ab:

1. Ruhestand sei out: Für einen großen Teil der „neuen Alten“ verbinde sich mit der Nacherwerbszeit kein „Stillstand“ oder Rückzug ins Private. Im Gegenteil: In keiner anderen Lebensphase würde so viel Wille und Lust zur gesellschaftlichen Mitgestaltung auf einen so großen Schatz an Erfahrungen, Kompetenzen und Zeit treffen. Diese Phase sollte nicht länger als „Ruhestand“ bezeichnet werden.

2. Es müsse keine falsche Rücksicht auf das Alter genommen werden: Es brauche keinen neuen Pflichtdiskurs über gesellschaftliche Verantwortung, doch sollte die ältere Generation in ihrem Willen zur gesellschaftlichen Mitgestaltung ernstgenommen werden. Deshalb könne die Gesellschaft die Generation der 50- bis 75-Jährigen in ihrem Verantwortungsbewusstsein ohne Hemmungen adressieren (da sie es auch selbst tun).

3. Die Gesellschaft könne sich auf die Älteren verlassen: Die „neuen Alten“ seien Kinder der Wohlstandsgesellschaft, in Frieden aufgewachsen, hätten von Bildungsreformen profitiert und soziale Bewegungen mitgeprägt. Angesichts ihrer großen Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement könne man von ihnen auch im Alter erwarten, dass sie für demokratische Beteiligung, eine integrative Gesellschaft und ein solidarisches Miteinander eintreten.

4. Innovatives Alter brauche neue Narrative: Die Lebensphase des Alters mit Potenzialen statt mit Defiziten zu verbinden, werde häufig debattiert. Aber auch die „positiven“ Bilder vom aktiven Alter würden dem Selbstbild der neuen Alten oft noch nicht gerecht: Gegen den gesellschaftlichen Trend, der Innovation nur mit Jugend verbindet, würden sich die Älteren auch als Innovationsträger sehen. Dieses Bild müsse auch transportiert werden.

5. Eine Gründerkultur für Ältere fehle: Der Gründergeist von Älteren brauche neben neuen Diskursen auch Vorbilder. Gleichzeitig bräuchten „Senior Social Entrepreneure“ konkrete Unterstützung, die bislang vor allem der jüngeren Start-up-Szene vorbehalten sei. Es fehle an einer geeigneten Zielgruppenansprache und Infrastruktur: Kreditgeber, Start-up-Kurse, Social Hubs und Berichterstattung über Gründungen müssten endlich auch Ältere in den Blick nehmen.

6. Es müsse neu über Arbeit im Alter gesprochen werden: Der Wert von Arbeit in der Gesellschaft sei groß. Zwei Drittel der 50- bis 75-Jährigen würden über das gesetzliche Rentenalter hinaus arbeiten, wenn sie Einfluss auf die Bedingungen nehmen können. Es müsste also über die Gestaltung der Arbeit und individuelle Möglichkeiten zur Weiterarbeit gesprochen werden – und nicht über pauschale Altersgrenzen. Höhere Renteneintrittsalter in den Blick zu nehmen, gebiete nicht nur die Generationengerechtigkeit. Viele Ältere würden das auch mittragen.