Handbuch

Bürgerbeteiligung in der Praxis

Thema

Gestaltung von Bürgerbeteiligungsprozessen

Herausgeberschaft

Stiftung Mitarbeit/ÖGUT

Autoren/Autorinnen

Martin Handler/Hanns-Jörg Sippel/Marion Stock

Erscheinungsort

Bonn

Erscheinungsjahr

2018

Stiftungsengagement

Stiftung Mitarbeit

Literaturangabe

Bürgerbeteiligung in der Praxis. Ein Methodenhandbuch. Hrsg. v. Stiftung Mitarbeit/Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik ÖGUT (= Arbeitshilfen für Selbsthilfe- und Bürgerinitiativen Nr. 52). Bonn 2018.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Die Autoren und die Autorin weisen darauf hin, dass ein sehr großer Teil der Menschen in Deutschland es für sehr wichtig halten, die Möglichkeit zu haben, ihre Sicht darzulegen und mitzudiskutieren, bevor die Politik Entscheidungen trifft. Die Ansprüche an Transparenz und verantwortliches Regierungshandeln habe erheblich zugenommen. Die Entscheidungsprozesse in einer repräsentativen Demokratie würden vielen Menschen als Legimiation nicht mehr ausreichen. Sie wollten umfassend und transparent über geplante Vorhaben informiert und bei der Entscheidungsfindung beteiligt werden. Gleichzeitig werde es immer wichtiger, tragfähige Lösungen für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu finden, zum Beispiel für die Transformation von einem fossilen in ein regeneratives Energiesystem, bei dem große infrastrukturelle Bauvorhaben umgesetzt werden müssen. Auch andere, teilweise höchst konfliktreiche Themen müssten bearbeitet werden, zum Beispiel Migration und Zuwanderung oder die ökologischen Herausforderungen des Klimawandels. Deshalb würden immer öfter politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse – vor allem auf kommunaler Ebene – von kooperativen Beteiligungsverfahren begleitet. Die Ziele könnten dabei sehr unterschiedlich sein. Doch meist gehe es im Kern darum, gemeinsam Ideen und gute Lösungswege für Herausforderungen zu entwickeln.

Gute Beteiligung bräuchte einen wohldurchdachten und abgestimmten kommunikativen Informations- und Aushandlungsprozess, bei dem ausgewogene Möglichkeiten der Mitwirkung aller relevanten Akteure sichergestellt ist. Partizipative Verfahren könnten dabei einen Rahmen bilden, um nach größmöglicher Verteilungsgerechtigkeit zwischen Mehrheiten und Minderheiten zu suchen. Wenn die Aushandlung der Interessen ausgewogen gestaltet wird, könne das die Demokratie nachhaltig stärken.

In der Handreichung wird eine große Vielfalt an Beteiligungsformen ausführlich vorgestellt: Aktivierende Befragung, Appreciative Inquiry, Bürgerausstellung, BürgerForum, Bürgerhaushalt, Bürgerkonferenz/Konsensuskonferenz, Bürgerpanel, Bürgerrat, Bürger Think Tank/Crowdsourcing, Charrette, Community Organizing, Demokratie-Audit, Dragon Dreaming, Fonds und Budgets, Forumtheater/Legislatives Theater, Mediation im öffentlichen Bereich, Online-Dialog, Open Space, Planspiel/Simulation, Planning for Real, Planungszelle/Bürgergutachten, Runder Tisch, Stadtteilspaziergang/Dialogischer Spaziergang, Theorie U, 21st Century Town Meeting, World Café, Zukunftskonferenz, Zukunftswerkstatt.

Wichtige Ergebnisse

Bei der qualitätsvollen Ausgestaltung eines Beteiligungsprozesses spielen methoden eine sehr große Rolle. Es gibt eine große Vielfalt an Methoden, die jeweils ihre spezifischen Potenziale und Grenzen haben.

Deshalb ist es aus Sicht der Autoren und der Autorin wichtig, geeignete Methoden auszuwählen und gut zu kombinieren. Auch sollte auf die Einbettung des Verfahrens in einen Gesamtprozess bzw. einen ausgewogenen kommunikativen Prozess geachtet werden, wenn Konflikte konstruktiv bearbeitet und die Ergebnisse angemessen in die politisch-administrativen Entscheidungsprozesse einfließen sollen. Ansonsten bleibe die Beteiligung ohne Wirkung.

Beteiligung brauche auch Qualität in der Durchführung, wenn dadurch das Vertrauen in die Institutionen der repräsentativen Demokratie gestärkt werden soll. Das Netzwerk Bürgerbeteiligung hat einen Katalog von Qualitätsanforderungen für die Umsetzung von Bürgerbeteiligungsverfahren erarbeitet.

Qualitätskriterien in Bürgerbeteiligungverfahren (nach: Netzwerk Bürgerbeteiligung)

Gute Bürgerbeteiligung

  • braucht die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Dialog
  • braucht Ressourcen und klare Ziel- und Rahmensetzungen
  • nutzt die vorhandenen Gestaltungsspielräume
  • ist ein Dialog auf Augenhöhe
  • ist verbindlich und verlässlich
  • braucht eine sorgfältige und kompetente Gestaltung des Beteiligungsprozesses
  • braucht transparente Information
  • ermöglicht die Mitwirkung aller
  • lernt aus Erfahrung
  • ist in eine lokale Beteiligungskultur eingebettet

Ein zentrales Kriterium sei, die Mitwirkung und Mitgestaltung aller Einwohnerinnen und Einwohner zu ermöglichen – unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialer und kultureller Herkunft. Die größte Herausforderung bestehe darin, die schwer erreichbaren und benachteiligten Gruppen der Bevölkerung zu stärken, die keine Möglichkeit sehen, Einfluss auf ihre Lebensumwelt zu nehmen und durch eigenes Handeln ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die Partizipation dieser Bevölkerungsgruppen sei für eine Demokratie, die politische Gleicheit anstrebt, von zentraler Bedeutung. Deshalb müsse die soziale Selektivität der Bürgerbeteiligung durch gezielte Maßnahmen und niedrigschwellige Zugänge ausgeglichen und die Teilhabechancen von Bevölkerungsgruppen am Rand der Gesellschaft erhöht werden. Aufsuchende Methoden wie die „Aktivierende Befragung“ oder „Planning für real“ würden Alltagsthemen aufgreifen und sie zum Ausgangspunkt für Beteiligungsprozesse machen. Solche stadtteilbezogenen Ansätze könnten erfolgreich sein, wenn sie auf Kontinuität und Langfristigkeit ausgelegt sind (Partizipation „von unten“).

Ein zentraler Streitpunkt dialogorientierter Beteiligungsverfahren sei, dass diese Verfahren rechtlich nicht geregelt sind, ihre inhaltliche und methodische Gestaltung offen ist und die konkrete Ausgestaltung in der Hand von Politik und Verwaltung liegt. Dies bedeute in der Praxis, dass bei jedem dialogorientierten Beteiligungsverfahren die „Spielregeln“ neu festgelegt werden müssten, die über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Mindestens genau so wichtig wie die Festlegung der Gestaltungsregeln sei ein verbindlicher und verlässlicher Rahmen, in dem das Beteiligungsverfahren stattfindet (z.B. kommunale Beteiligungskultur, Bürgerorientierung in der Kommune, Qualität der lokalen Demokratie).

Wichtige Prinzipien und Gestaltungsmerkmale kommunaler Leitlinien und Handlungsempfehlungen zur Bürgerbeteiligung (nach: Netzwerk Bürgerbeteiligung):

  • „Bürgerbeteiligung ist ein ergebnisoffener Prozess, der auf gegenseitigem Vertrauen beruht.
  • Die Kommune informiert die Einwohner/innen frühzeitig über ihre Vorhaben (Vorhabenliste).
  • Jede Einwohnerin und jeder Einwohner kann sich beteiligen und Bürgerbeteiligung zu Vorhaben der Stadt anregen. 
  • Für jeden Beteiligungsprozess wird ein Beteiligungskonzept (bzw. Gestaltungsregeln) erstellt, um die Realisierung der Qualitätsanforderungen zu sichern.
  • In jedem Beteiligungsprozess gibt es für alle Beteiligten einen/eine Ansprechpartner/in in der Verwaltung, der/die den Prozess organisiert.
  • Eine Koordinierungsstelle Bürgerbeteiligung berät und unterstützt Einwohner/innen, Politik und Verwaltung bei der Realisierung der Bürgerbeteiligung.
  • Die Ergebnisse und Zwischenstände einer Bürgerbeteiligung werden an alle Beteiligten rückgekoppelt und auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
  • Ein paritätisch besetztes Gremium aus Politik, Verwaltung und Einwohnerschaft begleitet die Realisierung der Leitlinien und der Bürgerbeteiligung in der jeweiligen Kommune und berät in strittigen Fragen.
  • Die Entscheidungsträger/innen aus Politik und Verwaltung befassen sich ausführlich mit den Ergebnissen der Bürgerbeteiligung und beziehen diese in ihre Entscheidungsfindung ein. Sie begründen anschließend nachvollziehbar und transparent, aus welchen Gründen welche Entscheidungen gefällt wurden.
  • Die Leitlinien werden auf der Grundlage der Auswertung der Beteiligungspraxis in der Kommune kontinuierlich weiterentwickelt.
  • Qualitätskriterien für gute Bürgerbeteiligung bilden die Grundlage der Leitlinien. Sie gelten für alle gesetzlich verbindlichen und freiwilligen Beteiligungsverfahren in der Kommune.“

Bürgerbeteiligung könne in einer „Partizipationslandschaft“ große Potenziale auf allen Ebenen der Demokratie entfalten und das Zusammenspiel von Verwaltung, Politik und Einwohnerschaft neu definieren, ohne die repräsentative Demokratie in Frage zu stellen. Gute Bürgerbeteiligung stärke somit das politische System in seiner Entscheidungsfindung und trage entscheidend dazu bei, eine neue kooperative Kultur zwischen allen Akteuren zu entwickeln und zu etablieren.

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