Fachpublikation

Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen

Thema

Bürgerbeteiligung in einer vielfältigen Demokratie

Herausgeberschaft

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

Erscheinungsort

Gütersloh

Erscheinungsjahr

2018

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung, Stiftungen in der Allianz für Vielfältige Demokratie

Literaturangabe

Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen. Empfehlungen und Praxisbeispiele für ein gutes Zusammenspiel
in der Vielfältigen Demokratie. Hrsg. v. Bertelsmann Stiftung. Gütersloh 2018.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass die Demokratie in Deutschland vielfältiger geworden ist und Bürgerinnen und Bürger häufig nicht zufrieden mit politischen Entscheidungen sind, die auf rein repräsentativen Verfahren beruhen.

Bürgerinnen und Bürger wollten gehört und in die Entscheidungsfindung eingebunden werden, zum Beispiel in Fragen der Stadtentwicklung und der Unterkünfte für Geflüchtete. Sie wollten auch in den Jahren zwischen zwei Wahlterminen mitreden, mitgestalten und mitentscheiden. Diesem Wunsch würden die Parlamente auch immer häufiger nachkommen: In den letzten Jahren wurden die Möglichkeiten für direktdemokratische Verfahren erweitert und verstärkt Bürgerdialoge initiiert und gefördert.

Hier setzt das Konzept der Publikation an, in der wissenschaftliche Erkenntnisse und die Praxiserfahrungen der „Allianz Vielfältige Demokratie“ dargestellt werden, einem von der Bertelsmann Stiftung initiierten Netzwerk aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft.

Wichtige Ergebnisse

Formen demokratischer Beteiligung

Die demokratische Beteiligung in der vielfältigen Demokratie Deutschlands steht nach Ansicht der Autorinnen und Autoren auf drei Säulen: Dabei wird die starke Säule der repräsentativen Beteiligung um die beiden Säulen der direktdemokratischen und dialogorientierten Beteiligung ergänzt.

1. repräsentativ:

  • Modus: Wahlen/Parlamente, Abstimmung über Repräsentantinnen und Repräsentanten
  • Rechtsrahmen: Wettbewerb der Parteien, verbindliche Ergebnisse
  • Rollen: Bürgerinnen und Bürger als Wählende, massenmediale Kommunikation

2. direkt-demokratisch:

  • Modus: Volks- und Bürgerentscheide, Abstimmung über Sachfragen
  • Rechtsrahmen: Zuspitzung in der Bürgerschaft, verbindliche Ergebnisse
  • Rollen: Bürgerinnen und Bürger als Entscheidende, massenmediale Kommunikation

3. dialogisch:

  • Modus: verschiedene Formate, Konsultation von Bürgerinnen und Bürgern
  • Rechtsrahmen: Konsensorientierung, keine verbindlichen Ergebnisse
  • Rollen: Bürgerinnen und Bürger als Beratende, persönliche Kommunikation

Im Vergleich weisen repräsentative und direkt-demokratische Beteiligungsformen Ähnlichkeiten auf, während sich die dialogische Beteiligung grundlegend von den anderen beiden unterscheidet.

Gemeinsamkeiten zwischen repräsentativer und direktdemokratischer Beteiligung:

  • Beide Formen – Wahlen wie Bürgerentscheide – werden durch Abstimmung entschieden.
  • Das Ziel ist der Gewinn von Mehrheiten.
  • Die Akteure stehen in einem Konkurrenzverhältnis.
  • Es herrscht ein allgemeines Teilnahmerecht.
  • Die Ergebnisse sind rechtsverbindlich.
  • Beide Verfahren genießen hohe Akzeptanz.
  • Bürgerinnen und Bürger sind hauptsächlich Adressatinnen und Adressaten von Massenkommunikation.

Unterschiede der dialogischen Beteiligung zu den beiden anderen Formen:

  • Format, Ablauf und Ziel sind variabel, die Durchführung ist freiwillig.
  • Die Akteure versuchen, einen Konsens zu erzielen.
  • Das Teilnahmerecht ist eingeschränkt.
  • Die Ergebnisse sind rechtlich nicht bindend.
  • Die Zustimmung zu den Ergebnissen hängt vom Verlauf des Verfahrens ab.
  • Die Bürgerinnen und Bürger nehmen an der Kommunikation teil.

Wichtige Gemeinsamkeiten zwischen dialogischer und direkter Beteiligung:

  • Beide Verfahren beschäftigen sich mit konkreten Fragestellungen.
  • Die Politik bekommt qualifizierte Rückmeldungen außerhalb von Wahlen.

Stärken und Schwächen der drei Beteiligungsformen

1. Repräsentative Beteiligung

  • Stärken: hohe Legitimation, hohe Akzeptanz von Wahlen, egalitärste Form der Beteiligung, Rechenschaftspflicht, Expertise der Fachverwaltungen, Kontrolle durch Öffentlichkeit
  • Schwächen: geringe Aktivierung der Bürgerexpertise, große Distanz zu Bürgerinnen und Bürgern, mangelnde Transparenz der Entscheidungsfindung, ungleiche Einflussnahme von Interessengruppen, Denken in Legislaturperioden, Fraktionszwang

2. Direktdemokratische Beteiligung

  • Stärken: fördert politisches Interesse von Bürgerinnen und Bürgern, löst inhaltliche Debatten aus, rechtsverbindliche Entscheidungen, direkte Entscheidung über Sachfragen, als Gegenmacht wird Politik diszipliniert und korrigiert
  • Schwächen: Polarisierung der Bürgerschaft, Zuspitzungen und vereinfachende Ja-Nein-Entscheidungen, Ausgang abhängig von Kampagnen-Fähigkeit, wenig rationale Diskurse, Zeitdruck, situative Entscheidungen

3. Dialogorientierte Beteiligung

  • Stärken: Flexibilität in Format und Ablauf, Versachlichung, gemeinschaftliche Entscheidungsvorbereitung, Meinungsvielfalt, Bereitschaft zur Anerkennung der Ergebnisse, Förderung von gegenseitigem Verständnis und Vertrauen zwischen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft
  • Schwächen: selektive Teilnehmerschaft, geringe Rückkopplung mit Entscheidungsträgern und -trägerinnen während des Verfahrens, Ergebnisse bleiben vielfach unberücksichtigt, fehlende Rechenschaftspflicht und Verbindlichkeit, große Qualitätsunterschiede, hohe Kosten, hoher Zeitaufwand

Partizipative Verfahren könnten vor allem in Fragen, die ein hohes Konfliktpotenzial bergen und emotional aufgeladen sind, gegenseitige Verständigung fördern. Bürgerdialoge könnten direkte und repräsentative Demokratie versöhnen, wo sie sich in Konkurrenz gegenüberstehen. Sie könnten inhaltliche Alternativen ausarbeiten, wo sonst nur ein Ja oder Nein möglich ist. Und sie könnten bewirken, dass auch nicht mehrheitsfähige Positionen Berücksichtigung finden.

Vorteile einer Verknüpfung dialogischer und repräsentativer Verfahren:

  • Bedenken und Anregungen werden frühzeitig im Verfahren thematisiert.
  • Repräsentanten und Repräsentantinnen erfahren einen Wissenszuwachs und mehr über die Argumente und Sichtweisen der „Anderen“.
  • Bürgerbeteiligung schafft einen Rahmen zur Bearbeitung von Konflikten.
  • Die Kommunikation zwischen Repräsentanten und Repräsentantinnen und Bürgerinnen und Bürgern wird verbessert.
  • Ein konstruktiver Austausch schafft Vertrauen zwischen Repräsentanten und Repräsentantinnen und Bürgerinnen und Bürgern.
  • Getroffene Entscheidungen werden eher akzeptiert.

Vorteile einer Verknüpfung dialogischer und direktdemokratischer Verfahren:

  • Dialogverfahren bereiten Abstimmungen vor, versachlichen Debatten und entschärfen Konflikte.
  • Alternativen können entwickelt und geprüft werden.
  • Das Risiko einer Polarisierung der Bürgerschaft sinkt.
  • Der Gesprächsfaden zwischen Politik und Bürgerinnen und Bürgern wird gestärkt.
  • Mehr Bürgerinnen und Bürger werden aktiviert und beteiligen sich.
  • Die Chance auf einen Kompromiss besteht – der Verzicht auf einen Bürgerentscheid wird möglich.
  • Die Abstimmung stärkt die Legitimation politischer Entscheidungen.

Vorgestellt werden vier Modelle einer konstruktiven Verknüpfung mehrerer Beteiligungsverfahren

Modell 1: Vorbereitung einer parlamentarischen Entscheidung

Modell 2: Vorbereitung eines Bürgerentscheids oder Legitimierung eines Dialogergebnisses

Modell 3: Kompromiss statt Bürger- oder Volksentscheid

Modell 4: Umgang mit einem kassierenden Bürger- und Volksentscheid

Empfehlungen zur Förderung dialogischer Beteiligungsverfahren

Flexibilität wird als eine der Stärken informeller Beteiligungsverfahren gesehen. Format und Ablauf könnten an das jeweilige Thema, die adressierten Teilnehmenden, die Ausgangssituation und das Ziel angepasst werden. Dialogische Verfahren müssten jedoch an Verbindlichkeit gewinnen, damit ihr Potenzial besser genutzt werden kann. Sie bräuchten klare Spielregeln für alle Teilnehmenden. Idealerweise sollte ein fester Rahmen für alle dialogischen Verfahren in einer Kommune oder einem Bundesland etabliert werden, der ein Mindestmaß an Qualität und Professionalität garantiert. Zur notwendigen Verlässlichkeit zähle auch eine klare Absprache darüber, wie mit den Ergebnissen des Verfahrens umgegangen wird.

Um dies alles zu gewährleisten, beschreiten bereits einige Städte erfolgreiche Wege der Institutionalisierung von Bürgerbeteiligung. Sie haben dialogische Verfahren zu einem integralen Bestandteil der Demokratie gemacht.

1. Ansätze zur Instituitionalisierung dialogischer Beteiligungsverfahren

  • Kommunale Ebene: Leitlinien und Satzungen für Bürgerbeteiligung, in denen zum Beispiel Qualitätsstandards, Verfahrensabläufe und Schnittstellen zwischen den Akteuren festgehalten sind
  • Landes- und Bundesebene: Partizipative Gesetzgebung, indem Bürgerinnen und Bürger an der Erarbeitung von Gesetzen, Strategien und Plänen einer Landes- oder Bundesregierung beteiligt werden; insbesondere bei kontroversen Themen erscheinen ergänzende Dialogverfahren sinnvoll
  • Auf allen Ebenen: Koordinierungsstellen für Bürgerbeteiligung als zentrale Service-Einheiten rund um das Thema Beteiligung (Beratung, Unterstützungsangebote, Qualitätssicherung, Wissenstransfer)
  • Infrastrukturprojekte: Frühzeitige Beteiligung der Bevölkerung bei formellen Verwaltungsverfahren

2. Anpassung der rechtlichen Rahmen

Damit eine Verknüpfung mit dialogischen Verfahren überhaupt möglich wird, müsse genügend Zeit vorhanden sein. Bei der Durchführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene seien die zeitlichen Fristen teilweise zu eng, sodass dialogische Verfahren nicht möglich sind. Die zeitlichen Fristen müssten daran angepasst bzw. verlängert werden.

Empfehlungen: Zehn Punkte für ein erfolgreiches Zusammenwirken dialogischer und direktdemokratischer Verfahren

  • Politischer Wille zur Dialogbereitschaft
  • Ergebnisoffenheit
  • Klare Spielregeln
  • Timing
  • Meinungsvielfalt
  • Antizipation
  • Rechtliche Flexibilität
  • Transparenz
  • Information
  • Versachlichung durch Qualität

Argumente für dialogische Bürgerbeteiligung aus Sicht der Akteursgruppen

1. Politikerinnen und Politiker (ehrenamtliche Kommunalpolitik und Hauptverwaltung), die im Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern stehen, können durch Bürgerbeteiligung

  • die Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern verbessern,
  • einen Rahmen zur Bearbeitung von Konflikten erhalten, der einen
  • Interessenausgleich ermöglicht,
  • Bürgernähe zeigen und sich persönlich profilieren,
  • einen Wissenszuwachs erfahren und Anregungen für politisches Handeln erhalten,
  • ihr Image als Kommunalpolitiker oder Kommunalpolitikerin verbessern.

Verwaltungsmitarbeitende mit Führungsfunktion, die politische Entscheidungen gut vorbereiten und rechtssicher agieren müssen, können durch Bürgerbeteiligung

  • die Argumente und Sichtweise der „Anderen“ (Faktenwissen, Erfahrungswissen) erfahren,
  • einen Wissenszuwachs bekommen, mit dem Entscheidungen besser vorbereitet werden können,
  • die Vertrauensbildung in die Verwaltung unterstützen,
  • Bedenken und Beschwerden früher behandeln, was zu schnelleren Behördenverfahren führt, weil es weniger Einsprüche und nachträgliche Beschwerden gibt.

Die Bürgerinnen und Bürger bzw. die Akteure zivilgesellschaftlicher Organisationen, die von politischen und planerischen Entscheidungen unmittelbar in ihrem Lebensumfeld berührt sind, können durch Bürgerbeteiligung

  • Entscheidungen, die sie selbst und ihre Lebensqualität betreffen, mitgestalten und beeinflussen,
  • ihre Kompetenz und ihr Profil den Mitgliedern ihrer Bürgerinitiative/Organisation/Verein gegenüber verdeutlichen,
  • die eigenen (Wert-)Vorstellungen/Ideen und Interessen einbringen und umsetzen.

Vertreterinnen und Vertreter von Unternehmen und Industrieverbänden können durch Bürgerbeteiligung

  • die spätere Akzeptanz eines Projektes verbessern,
  • Konflikte und Klagen vermeiden oder zumindest reduzieren,
  • zusätzliches Wissen „vor Ort“ einbinden, um das jeweilige Projekt zu verbessern,
  • Ängsten und Sorgen mit vertrauensvollem Dialog und guten
  • Argumenten entgegenwirken,
  • finanzielle Mittel einsparen, die sonst für Verzögerungen oder Baustopps hätten aufgewendet werden müssen.

Die Autoren und Autorinnen der Studie stellen fest, dass es nicht nur ein einziges gutes Argument für Bürgerbeteiligung gibt, das alle überzeugt. Stattdessen spreche jede Akteursgruppe aus ihrer Funktions- und Handlungslogik heraus auf andere Gründe für Bürgerbeteiligung an und profitiere auch auf andere Weise von diesem Verfahren.