HandreichungProjektbericht

Europa verstehen. Handlungsansätze für eine diversitätsorientierte Peer-Bildung

Thema

Teilhabe und Bildung für junge Bürger*innen in Europa

Herausgeberschaft

Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa (Hg.)

Autoren/Autorinnen

Agnes Scharnetzky/Bernard Dröge/Brigitte Fuhrmann/Fikri Anıl Altıntaş/Karim Fereidooni/Lena Prötzel/Thimo Nieselt

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2019

Stiftungsengagement

Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa, Stiftung Mercator

Literaturangabe

Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa (Hg.): Europa verstehen. Handlungsansätze für eine diversitätsorientierte Peer-Bildung. Berlin 2019.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Vor zehn Jahren wurde „Europa Verstehen“ als Peer-Projekt der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa ins Leben gerufen. Der EU-Kompakt-Kurs entstand aus der Idee, Schüler*innen mit einer Grundlage auszustatten, um sich an Diskussionen zu europapolitischen Themen zu beteiligen und ihr Interesse an Europa zu stärken. Mittlerweile fördert das Projekt zentrale Kompetenzen für eine teilhabeorientierte Lehr- und Lernkultur. Dabei sollen junge Menschen dabei unterstützt werden, sich als aktive Bürger*innen für ein pluralistisches und offenes Europa einzusetzen. In 15 europäischen Ländern sind jährlich 280 junge Peers und etwa 12.500 Schüler*innen an allgemein- und berufsbildenden Schulen im Projekt "Europa Verstehen" aktiv.

Im Mittelpunkt des Projekts stehen die Peer-Trainer*innen: Sie wirken als Vermittler*innen auf Augenhöhe in den Klassenzimmern, setzen das Projekt vor Ort um, entwickeln neues europabezogenes Bildungsmaterial und organisieren Qualifizierungen für ihre Regionalgruppen.

In der vorliegenden Publikation soll das Erfahrungswissen der letzten Jahre zu folgenden Fragen geteilt werden:

  • Wie können Teilhabe- und Bildungsprozesse junger Menschen gestärkt werden?
  • Wie sollten geschützte Lern- und Begegnungsräume gestaltet sein, um jungen Menschen Möglichkeiten und Zugänge zu bieten, sich auszuprobieren und sich und andere Weltbilder und Erfahrungshintergründe kennen und besser verstehen zu lernen?

Im ersten Teil stehen die pädagogischen Ansätze im Mittelpunkt, im zweiten Teil geht es um konkrete Methoden und Praxishilfen, von denen einige im Rahmen einer wissenschaftlichen Begleitung von Agnes Scharnetzky und Brigitte Fuhrmann entstanden sind. Die wichtigsten Fachbegriffe werden in einem Glossar am Ende erläutert.

Die Publikation wurde gefördert durch die Stiftung Mercator, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“

Wichtige Ergebnisse

Pädagogische Ansätze

Im ersten Teil des Buches stehen die pädagogischen Ansätze von „Europa Verstehen“ im Mittelpunkt.

1. Was ist mit Peer Education gemeint? Warum wirkt der Ansatz? Wie wird Teilhabe gestaltet?

Das Projekt „Europa Verstehen“ arbeitet mit dem teilhabeorientierten Ansatz der Peer Education an Schulen. Die Peer-Trainer*innen sind zwischen 16 und 28 Jahre alt und befinden sich somit relativ nah am Alter und an der Lebenswelt der Schüler*innen. Die Peers nehmen im Projekt eine Doppelrolle ein: Sie sind einerseits Vermittelnde auf Augenhöhe, da junge Menschen eher von und mit Gleichaltrigen lernen. In diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass auf diese Weise für Jugendliche ein Gesprächsraum zu Politik in Europa und ihren eigenen Lebenswelten geschaffen wird (Subjektorientierung), ohne dass eine Bewertung oder Benotung stattfindet. Die große Stärke des Ansatzes wird in der Authentizität der Peers gesehen: Sie sind auch selbst Lernende und können durch die eigene Bildungspraxis und im Rahmen der Qualifizierung ihre persönlichen Kompetenzen weiterentwickeln.

Der Peer-Ansatz wird auf auf zwei Ebenen verstanden: Im Klassenzimmer lernen Peers und Schüler*innen mit- und voneinander durch Aneignung am gemeinsamen Gegenstand. Bei Trainings und anderen begleitenden Formaten lernen die Peers mit- und voneinander, etwa durch Peer-Feedback und kollegiale Beratung.

Das Ziel von Peer Education ist die Stärkung von Teilhabe und Selbstbestimmung. Durch die Übernahme von Verantwortung innerhalb des Projekts soll für die Peers Selbstwirksamkeit erfahrbar werden, also die Überzeugung, auch schwierige Situationen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Im besten Fall soll diese Erfahrung von Teilhabe im Kontext von Vielfalt und Differenz dazu führen, gesellschaftliche Themen mitgestalten zu wollen und sich für ein offenes und pluralistisches Europa einzusetzen. Darüber hinaus können Mitbestimmung und Beteiligung der Peers ihre Möglichkeit von Ownership verstärken, indem sie das Projekt als ihr eigenes ansehen. Im Projekt "Europa Verstehen" sollen dadurch in den Bildungsformaten die Perspektiven der Peers und insbesondere auch transnationale Perspektiven und Projektstrukturen aus den unterschiedlichen Ländern gestärkt werden.

Teilhabe ist wesentlicher Bestandteil von Peer Education. Sowohl die Kursteilnehmenden und -teilhabenden als auch die Peers können die Formate und Inhalte der Bildungsangebote mitgestalten. Den Peers sollte je nach individuellen Stärken, zeitlichen Möglichkeiten und Wünschen ermöglicht werden, in unterschiedlichen Intensitäten und Bereichen innerhalb des Bildungsprojekts mitzuwirken. Verantwortung kann unter anderem in Bezug auf die folgenden Aufgabenbereiche bzw. Rollen übertragen werden: Durchführung von Kursen bzw. Gestaltung von Bildungssettings, Qualifizierung anderer Peers (Planung und Durchführung von Schulungen), Entwicklung von neuen Bildungsformaten und -material, Übernahme von Projektumsetzung (z.B. als Koordinator*in vor Ort).

2. Wie werden im Rahmen der Qualifizierungen Kernkompetenzen an die Peers von „Europa Verstehen“ vermittelt? Wie sieht das vom Europarat entwickelte Modell „Kompetenzen für eine demokratische Kultur“ aus?

Das Qualifizierungsprogramm soll die Peers dazu befähigen, ihre Rolle als Multiplikator*innen sowie ihre gesellschaftliche Position zu reflektieren, ihr europabezogenes und machtkritisches Wissen zu vertiefen und Methoden der inklusiven und diskriminierungssensiblen Bildungsarbeit zu Europa erfolgreich anzuwenden. Die jährlichen mehrtägigen Schulungen werden zum größten Teil von speziell qualifizierten Peers in den jeweiligen Ländern selbst organisiert und durchgeführt.

Im Folgenden wird erläutert, anhand welcher Qualifizierungsmodule diese Kernkompetenzen gefördert werden können.

  • Reflexionskompetenz
  • Europabezogene Sach-, Urteils- und Handlungskompetenz
  • Methodenkompetenz
  • Kompetenzentwicklung als Ziel von Democratic Citizenship Education

Das Modell „Kompetenzen für eine demokratische Kultur“ des Europarats umfasst Werte, Einstellungen, Fähigkeiten sowie Wissen und kritisches Denken.

3. Erläuterungen von Prof. Karim Fereidooni anhand konkreter Unterrichtssituationen, wie im Klassenzimmer rassismuskritisch gearbeitet werden kann

Rassismuskritik wird im Beitrag folgendermaßen definiert: Rassismuskritik bedeute die umfassende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Handlungsweisen, die durch Rassismen vermittelt sind und Rassismus verstärken. Besonders im Bildungsbereich sei die Beschäftigung mit Rassismus notwendig, da auch dort rassismusrelevante Aushandlungsprozesse bestehen und reproduziert werden. Rassismuskritische Bildung ziele dabei darauf ab, Rassismuskritik als Professionskompetenz für Lehrer*innen, Peers und Multiplikator*innen in deren fachliche Quali­fizierung einzubinden. Schüler*innen sollten dabei Handlungskompetenzen entwickeln, um menschenfeindliche Positionen und Sachverhalte zu erkennen und sich dagegen positionieren zu können. Die Frage: „Was hat Rassismus mit mir zu tun?“ könne als Leitfaden zur Reflektion und als Grundlage zur Erlangung einer rassismussensiblen Haltung dienen.

4. Interview mit dem YouTube-Satire-Kollektiv „Datteltäter“, die in ihren Videos Alltagserfahrungen muslimischer Lebenswelten in Deutschland thematisieren

Im Gespräch wird deutlich, dass Offenheit und ein wirkliches Interesse an der Zielgruppe notwendig sind, um auf Augenhöhe mit Schüler*innen ins Gespräch zu kommen.  

5. Erläuterung der Zusammenhänge für das Gelingen inklusiver politischer Bildungsprozesse anhand einer Evaluation des Zentrums für inklusive politische Bildung (ZipB)

„Inklusion ist ein gesamtgesellschaftlich interaktiver Transformationsprozess, der darauf abzielt, diskriminierende soziale Konstruktionen aufzulösen und für alle Menschen Teilhabe zu ermöglichen. Teilhabe schließt hier ein, dass Zugang, Chancengerechtigkeit und Selbstbestimmung ermöglicht werden.“ (Zentrum für inklusive politische Bildung)

Als zentrale Prinzipien inklusiver politischer Bildung werden genannt:

  • Wechselseitig aufeinander bezogener Austausch als zentrales Element der Lernsituation
  • Anerkennung und Bildung als Voraussetzungen für gelingende Lernprozesse
  • Herstellung von Sinn und Bedeutung in Interaktionsprozessen
  • Methodische und sprachliche Zugänge – Aneignung am gemeinsamen Gegenstand

6. Diskussion von Peers und Alumni von „Europa Verstehen“ mit der Bildungswissenschaftlerin Dr. Helle Becker über Herausforderungen der politischen Bildung, das Politikverständnis von Jugendlichen und das Zusammenspiel von außerschulischer Bildung am Lernort Schule.

„Wir sehen gerade an ‚Fridays für Future, dass Jugendliche Politik an anderen Dingen festmachen als an unserem parlamentarischen System oder an Institutionen, nämlich an ihren tatsächlichen Lebensanliegen.“ (Helle Becker)

Methoden und Praxishilfen

Im zweiten Teil des Buches werden konkrete Methoden und Praxishilfen vorgestellt.

7. Anhand der Methode „Europa in 4 Ecken“ wird erläutert, wie Lehrende und Peers den Dialog mit Schüler*innen öffnen und Kontroversität stärken können.

8. Es werden lebensweltliche Zugänge zum Thema Europa anhand von vier politikdidaktischen Prinzipien (exemplarisches, biografisches und problemorientiertes Lernen, Kontroversität) beschrieben.

9. Es wird erläutert, durch welche Haltungen und Einbeziehung von Perspektiven es gelingen kann, eine multiperspektivische, europäische Geschichte im Klassenzimmer zu erzählen. Zudem werden Wege aufgezeigt, wie die Zeitstrahl-Methode eingesetzt werden kann.

10. Es werden Hinweise gegeben, was bei der selbstständigen Organisation des Veranstaltungsformats „Beteiligungsdialog“ zu beachten ist und wie mit Schüler*innen gemeinsam Beteiligungsideen entwickelt werden können.

11. Es wird die Methode der kollegialen Fallberatung beschrieben, die gemeinsames Lernen unter den Peers ermöglicht.

12. Es wird das Kontroversitätsprinzips der politischen Bildung anhand der Methode „Toleranzlinie“ vorgestellt und Hinweise zum Umgang mit menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Aussagen im Klassenzimmer gegeben.