Handlungsempfehlungen

Gemeinsam für eine bessere Bildung. Empfehlungen zur gleichberechtigten Bildungsteilhabe von Sinti und Roma in Deutschland

Thema

Gleichberechtigte Bildungsteilhabe von Sinti und Roma

Herausgeberschaft

Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2016

Stiftungsengagement

Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)

Literaturangabe

Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ): Gemeinsam für eine bessere Bildung. Empfehlungen zur gleichberechtigten Bildungsteilhabe von Sinti und Roma in Deutschland. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin 2016.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass allen Menschen in Deutschland – unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft – eine gleichberechtigte Teilhabe an Bildung zu ermöglichen ist. 2011 wurde die „Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma“ von RomnoKher veröffentlicht, die von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) hauptsächlich gefördert wurde. Hier war deutlich geworden, dass die Bildungssituation von Roma und Sinti nur im Zusammenwirken von Mehrheit und Minderheit und in einem langfristigen Prozess verbessert werden kann. Die Autorinnen und Autoren arbeiteten heraus, dass Roma und Sinti einen „Bildungsaufbruch“ unterstützen, und sie empfahlen, in einem Dialog mit Bildungsträgern dafür geeignete Modelle zu finden.

Auf diesen Erkenntnissen aufbauend gründete die Stiftung EVZ im Jahr 2013 den „Bundesweiten Arbeitskreis zur Verbesserung der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs von Sinti und Roma in Deutschland“. In diesem Rahmen erarbeiteten Expertinnen und Experten aus Sinti- und Roma-Organisationen gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Bundesministerien, der Länder, der Kommunen, von Stiftungen und der Wissenschaft Handlungsempfehlungen, die im September 2015 veröffentlicht wurden. Aufgrund des großen Interesses wurde nach einem Jahr eine erweiterte zweite Auflage publiziert. Auf Basis der Empfehlungen fördert die Stiftung EVZ seit 2016 erste Projekte in Deutschland.

Wichtige Ergebnisse

Zur gleichberechtigten Bildungsteilhabe von Sinti und Roma in Deutschland empfiehlt der Arbeitskreis, inklusive Bildung weiter zu stärken und die allgemeine Förderung bei Bedarf durch explizite, aber nicht exklusive Maßnahmen zu ergänzen.

Grundsätzlich sollte die Heterogenität der Herausforderungen berücksichtigt werden, indem

  • Kinder, Jugendliche und ihre Familien individuell und konkret unterstützt, ihre Potenziale und Erfolgsgeschichten gefördert und verbreitet werden,
  • ein ganzheitlicher Interventionsansatz mit lokalem Fokus gewählt wird,
  • Roma und Sinti an der Planung, Durchführung und Auswertung der Maßnahmen beteiligt werden,
  • Antiziganismus in der Bildungsarbeit konkret benannt und ihm entgegengewirkt wird,
  • die Bedeutung der intergenerationellen Traumatisierung von Sinti- und Roma-Familien durch die nationalsozialistische Verfolgung und fortgesetzter Ausgrenzung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten beachtet wird, deren Folgen für die Bildungsbeteiligung bis heute wirksam sind.

In vier Bereichen gibt der Arbeitskreis spezifische Empfehlungen:

1. Datenerhebung und wissenschaftliche Studien

Bei der Datenerhebung und Forschung zu Sinti und Roma in Deutschland sei die Ausgangslage von Missbrauch geprägt, da es im Nationalsozialismus unmittelbare Verflechtungen von „Wissenschaft“ und Vernichtung gab. In der Forschung sollte künftig die Abgrenzung von antiziganistischen Deutungsmustern stärker berücksichtigt werden. Dafür müsse ein kritisches Wissenschaftsverständnis gefördert und über Instrumente gegen Datenmissbrauch informiert werden. Wissenschaftliche Studien und Erhebungen sollten dem Prinzip der Nichtschädigung verpflichtet sein, zudem sei die informierte Einwilligung der Teilnehmenden zu garantieren. Vor allem angewandte Forschung sollte gefördert und partizipativ gestaltet werden. Zudem sei es nötig, Daten zu Diskriminierung und Antiziganismus zu erheben und Roma und Sinti als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu fördern.

2. Monitoring und Evaluation

Roma und Sinti und ihre Organisationen sollten beim Monitoring von Bildungsergebnissen, Projekten und Programmen, aber auch bei Evaluationen einbezogen werden. All diese Prozesse seien partizipativ zu gestalten. Darüber hinaus sollten Bildungshindernisse und deren Veränderungen gemessen und im Monitoring berücksichtigt werden, zum Beispiel durch eine Einstellungsbefragung von Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften.

3. Beschäftigung von Roma und Sinti im Bildungsbereich

Um Rollenmodelle zu schaffen und die Vielfalt der Kinder und Jugendlichen auch beim pädagogischen Personal abzubilden, sollte die Ausbildung und Beschäftigung von Roma und Sinti in pädagogischen Berufen gefördert werden. Als Übergangsmodell empfiehlt der Arbeitskreis – wie auch schon Europarat, Europäisches Parlament und EU-Kommission – die Ausbildung und den Einsatz von Roma und Sinti im Bereich Bildungsberatung und Schulmediation. Dadurch könnten Sinti und Roma niedrigschwellig und zeitnah als Akteure in die pädagogische Praxis eingebunden werden. Formale Qualifikationen für die Tätigkeit als Erzieherin und Erzieher, Sozialpädagogin und Sozialpädagoge sowie als Lehrkraft sollten berufsbegleitend nachgeholt werden (können). Für den erfolgreichen Einsatz von Sinti und Roma in Kindergärten und Schulen hat der Arbeitskreis im Dialog mit Praxisakteuren konkrete Gelingensbedingungen gesammelt.

4. Mentoren-, Tutoren- und Stipendien-Programme

Bei den Mentoren- und Tutoren-Programmen in Deutschland sollten mehr Sinti und Roma ausgebildet und eingesetzt werden. Auch wäre es wichtig, Roma und Sinti umfassend über Stipendien und andere Förderangebote zu informieren und temporäre Programme für eine spezifische, individuelle Förderung von Roma und Sinti in Deutschland zu etablieren. Sinnvoll wäre auch der Transfer von internationalem Erfahrungswissen in diesem Bereich.

5. Wissensvermittlung über Roma und Sinti in Geschichte und Gegenwart

Die Vermittlung von Wissen sollte sich daran orientieren, dass Sinti und Roma integraler Bestandteil deutscher und europäischer Geschichte und Gegenwart sind. Es könnte eine Studie zu den Bildungsstandards und Lernzielen der Länder durchgeführt werden, in der geprüft wird, ob Sinti und Roma als staatlich anerkannte Minderheiten und Staatsbürgerinnen und Staatsbürger begriffen werden, die als handelnde Subjekte ihren Platz in der deutschen und europäischen Geschichte und Kultur haben. Zur Verbreitung und Nutzung der bestehenden Angebote im Schulunterricht sollten gezielte Maßnahmen ergriffen werden und hierzu der Erfahrungsaustausch der Länder gestärkt werden. Darüber hinaus sollte die Wissensvermittlung über Roma und Sinti in der Lehramtsausbildung und -fortbildung verankert werden.