Studie

Gemeinsam Lernen oder Exklusion in der Inklusion?

Thema

Sichtweisen von Eltern auf inklusives Lernen in der Corona-Krise

Autoren/Autorinnen

Nicole Hollenbach-Biele

Erscheinungsort

Gütersloh

Erscheinungsjahr

2020

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung

Literaturangabe

Nicole Hollenbach-Biele: Gemeinsam Lernen oder Exklusion in der Inklusion? Wie Eltern die Corona-Zeit erleben und was das für die Schule der Zukunft bedeutet. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2020.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass Eltern durch die Corona-Pandemie vor besondere Herausforderungen gestellt wurden, indem sie von einem Tag auf den anderen die Belastungen durch Schulschließung, Homeschooling und soziale Distanz bei gleichzeitig wegfallender Unterstützung durch Institutionen, Vereine und Familie bewältigen mussten. Im schulischen Zusammenhang seien die Folgen der Pandemie vor allem im Bezug auf Digitalisierung diskutiert worden, nicht jedoch in Bezug auf das inklusive Lernen. Die besonderen Belange von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf seien aber bisher kaum wahrgenommen worden, ebenso wenig die Bedürfnisse ihrer Eltern. Bislang sei völlig unklar, inwiefern sich die Erfahrungen während der Pandemie auf die generelle Haltung der Mütter und Väter zur Inklusion ausgewirkt haben.

In der vorliegenden Publikation steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich die Covid-19-Krise auf die Sichtweisen und Einstellungen von Eltern in Bezug auf inklusives Lernen ausgewirkt hat. Dargestellt werden die Ergebnisse einer bundesweiten, repräsentativen Elternumfrage von infratest dimap, die im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt wurde. In der Studie wurden Eltern schulpflichtiger Kinder im Alter von 6 bis 17 Jahren befragt, wie sie das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung in der Corona-Krise sehen. Basis sind 2.899 Interviews (geschlossene und offene Fragen) auf der Grundlage einer Quotenstichprobe in einem Online-Accesspanel. Um die Vielzahl der Antworten von Müttern und Vätern auf die offenen Fragen in der Elternbefragung handhabbar zu machen, wurden sie einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen und inhaltlich zu Themenbereichen (Kategorien) gebündelt.

Wichtige Ergebnisse

Ausgewählte Ergebnisse der Umfrage

Wenig Veränderung bei der grundsätzlichen Einstellung zum gemeinsamen Lernen

Die Ergebnisse zeigen, dass sich an der Einstellung von Eltern zum gemeinsamen Lernen in inklusiven Settings auch durch die coronabedingten Schulschließungen prinzipiell nichts geändert hat.

  • Nach wie vor spricht sich etwa ein Viertel aller Eltern uneingeschränkt für das Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gleichen Klassenraum aus.
  • Lediglich zehn Prozent der Mütter und Väter äußert Skepsis und steht dem gemeinsamen Lernen ablehnend gegenüber – auch hier hat sich im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie nicht viel verändert.
  • Knapp zwei Drittel (64 Prozent) – und damit ähnlich viele Eltern wie schon 2019 – machen die Frage des inklusiven Lernens vom konkreten Förderbedarf des einzelnen Kindes abhängig.

Wandel im Blick durch individuelle Erfahrungen in der Corona-Krise

Dennoch scheint die Corona-Pandemie die Sicht vieler Familien im Hinblick auf Inklusion verändert zu haben. Dies könnte nach Ansicht der Autorin auf die individuellen Erfahrungen mit dem Lernen des eigenen Kindes und die Begleitung durch die jeweilige Schule zurückgeführt werden.

Die coronabedingten Schulschließungen hätten vielen Müttern und Vätern vor Augen geführt,

  • wie wichtig die individuelle Ansprache der Kinder durch die Lehrkraft und wie wichtig der Austausch mit den Mitschüler*innen ist,
  • vor welchen Hürden die Schüler*innen in Bezug auf digitale Medien stehen,
  • wie schnell Kinder und Jugendliche den Anschluss verlieren können, wenn sie isoliert am heimischen Schreibtisch lernen (müssen).

Eltern mit grundsätzlich positiver Einstellung gegenüber dem gemeinsamen Lernen:

Viele Eltern äußerten die Sorge, dass sich die Lern- und Leistungsunterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gegenüber Kindern und Jugendlichen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf durch die Schulschließungen vergrößert haben. Obwohl sie Inklusion grundsätzlich als den richtigen Weg erachten, äußern sie die Befürchtung, dass die gestiegene Heterogenität im Klassenzimmer zu einer doppelten Benachteiligung führen könnte:

  • zum einen durch ein erhöhtes Tempo bei der Nacharbeit des verpassten Stoffs, das Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf der Gefahr aussetzt, nicht mitzukommen,
  • zum anderen dass den Lehrkräften die Zeit für individuelle Förderung fehlt, was Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf besonders treffen würde.

Eltern mit skeptischer Einstellung gegenüber dem gemeinsamen Lernen:

Eltern, die schon immer inklusionskritisch eingestellt waren, argumentieren auf der Basis ähnlicher Erkenntnisse, ziehen aber eine andere Schlussfolgerung. Sie vertreten die Ansicht, dass Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf während der Schulschließungen abgehängt worden seien und nun den Schutzraum einer Förderschule benötigten, um in kleinen Klassen den versäumten Schulstoff in ihrem Tempo nachholen zu können.

Die Autorin der Studie weist darauf hin, dass dieser Argumentationsfigur von Seiten der Schule und der Politik mit überzeugenden Maßnahmen und einem nachvollziehbaren Krisenmanagement begegnet werden müsse, wenn die UN-BRK in den kommenden Jahren weiter umgesetzt werden und das inklusive Schulsystem auch in Krisenzeiten für alle Schüler*innen funktionieren soll.

Aus den Erfahrungen und Sichtweisen der Eltern leitet die Autorin insgesamt fünf Leitlinien für ein schulisches Krisenmanagement ab, an denen sich die Bildungspolitik, Schulen und Lehrkräfte orientieren sollten. Diese sollten für den Fall erneuter Schulschließungen gelten, könnten aber zugleich Hinweise darauf geben, wie inklusives Lernen grundsätzlich gestaltet werden sollte.

Inklusion krisenfest gestalten: Fünf Leitlinien für das gemeinsame Lernen der Zukunft

1. Schulbesuch für alle Kinder sicherstellen

2. Zielgerichtet in Bildung investieren

3. Digitale Geräte nicht nur nach dem Gießkannenprinzip verteilen

4. Hybrides Lernen im Zusammenhang mit sozialem Lernen denken

5. Digitales Lernen mit guter Elternarbeit verknüpfen

Fazit

Die Autorin weist auf das zentrale Anliegen von Eltern hin, dass die Situation von Kindern und Familien künftig eine stärkere Beachtung erfahren sollte: In der Pandemie, aber auch darüber hinaus dürften die Bedürfnisse und Interessen der Kinder nicht vernachlässigt werden.

In diesem Zusammenhang würden Mütter und Väter fordern, dass ihr Kind unabhängig vom jeweiligen Förderbedarf in der eigenen Klasse einen festen Platz hat und gemeinsam mit den Mitschüler*innen und Lehrkräften die Folgen der Corona-Krise ohne persönliche Nachteile verarbeiten kann. Dies müsse unabhängig davon sichergestellt werden, ob und in welcher erneute Homeschooling-Phasen für einzelne Schüler*innen, Lerngruppen, Klassen oder ganzer Schulen durchlaufen werden. Nach Ansicht der Autorin beschreiben die Forderungen der Eltern grundlegende Elemente eines guten inklusiven Unterrichts: So stelle sich die Frage nach einem sinnvollen didaktischen Umgang von Lehrkräften und Schüler*innen im digitalen Umfeld nicht nur in Zeiten des Homeschoolings – dies sei vielmehr eine grundsätzliche Aufgabe von Schulen.

Die Erfahrungen der Eltern könnten wichtige Erkenntnisse dazu liefern, wie Lehrkräfte, Schulen und weiteres pädagogisches Personal den Eltern im kommenden Schuljahr und auch in Phasen eines erneuten Homeschoolings mehr Sicherheit geben können. Zentral sei dabei ein engmaschiger Austausch mit den Lehrkräften über die didaktischen und inhaltlichen Lernziele, eine bessere individuelle Ansprache und mehr Feedback für die Schüler*innen sowie eine konsequente Nutzung des digitalen Lernens in Verbindung mit sozialem Lernen.

Mütter und Väter würden die Bildungspolitik auch in der Pflicht sehen, aus den Erfahrungen der Corona-Krise zu lernen. Es müsse darum gehen, das deutsche Schulsystem zukunftsfest zu machen. Dazu gehörten zielgerichtete Investitionen in die Infrastruktur und digitale Ausstattung, in die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften sowie in die erforderlichen Rahmenbedingungen eines guten Lernens für alle Kinder.