Handbuch

Handbuch Aktivierende Befragung

Thema

Demokratieentwicklung im Gemeinwesen

Herausgeberschaft

Stiftung Mitarbeit

Erscheinungsort

Bonn

Erscheinungsjahr

2019

Stiftungsengagement

Stiftung Mitarbeit

Literaturangabe

Maria Lüttringhaus/Hille Richers: Handbuch Aktivierende Befragung. Konzepte, Erfahrungen, Tipps für die Praxis. 4. aktualisierte und ergänzte Ausgabe. Hrsg. v. Stiftung Mitarbeit (= Arbeitshilfen für Selbsthilfe- und Bürgerinitiativen Nr. 29). Bonn 2019.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Die Autorinnen weisen darauf hin, dass die soziale und politische Ungleichheit und Ausgrenzung in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich zugenommen hat und es deshalb besonderer Anstrengungen bedarf, um eine gleichberechtigte demokratische Teilhabe sicherzustellen. Im Mittelpunkt der Publikation steht die Frage, wie die Interessen, Ideen und Ressourcen von Benachteiligten „erschlossen“ und Bevölkerungsgruppen, die sich wenig oder gar nicht gesellschaftlich beteiligen, besser erreicht werden können.

Inklusive Beteiligungsformen wie die „Aktivierende Befragung“ seien notwendig, um Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, für Beteiligung zu gewinnen und sie dabei zu unterstützen, ihre Interessen zu artikulieren. Damit sei eine aktivierende Form der aufsuchenden Beteiligung gemeint – im Unterschied zur oft praktizierten reinen Befragung von Einwohnerinnen und Einwohnern durch Befragungs-Dienstleistungsunternehmen, die nicht mit einer Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger verbunden ist.

„Aktivierende Befragung“ ist eine Methode, die in der Gemeinwesenarbeit entwickelt wurde. Sie wird verstanden als Beginn eines längerfristigen Kooperationsprozesses mit den Menschen vor Ort. In einem persönlichen Gespräch werden die Einwohnerinnen und Einwohner eines Stadtquartiers oder Wohngebiets nach ihren Meinungen und Bedürfnissen befragt und ermutigt, ihre Sichtweisen und Interessen zu vertreten und sich für deren Umsetzung zu engagieren, aber auch bei der Lösung von Problemen im Gemeinwesen mitzuwirken. Die Bürgerinnen und Bürger werden dazu motiviert, aktiv zu werden. Grundgedanke ist, dass eine lebendige Demokratie eine aktive Zivilgesellschaft braucht.

Die Publikation widmet sich in einer 4. aktualisierten und ergänzten Auflage der Praxis der Gemeinwesenarbeit. Das Handbuch ist eine praxisnahe Einführung, die auch theoretische Beiträge enthält. Die Methode der Aktivierenden Befragung wird ausführlich dargestellt. Nach einem Blick in die Geschichte und Entstehung der Methode werden ihre Möglichkeiten und Grenzen diskutiert. Enthalten ist auch ein großer Methodenkasten mit Tipps und Anregungen für die Durchführung. Auch Praxisbeispiele und Erfahrungsberichte, Arbeitsmaterialien, Literatur- und Internethinweise wurden aufgenommen. Die Handreichung soll Interessierten als praktisches Werkzeug dienen, um diese Methode vor Ort einsetzen zu können, aber auch den Dialog zwischen Praktikerinnen und Praktikern in dieser Frage erleichtern.

Wichtige Ergebnisse

Aktivierende Befragungen

Die Autorinnen nennen folgende Prinzipien und Ziele:

  • Aktivierende Befragungen bräuchten offene, forschende Fragen (z.B. Was meinen Sie? Was würden Sie tun, wenn sie etwas zu sagen hätten?), keine geschlossenen Fragen, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können (z.B. Wollen Sie hier eine Bank?). Der Kern der Aktivierung liege in der Erforschung der ganz persönlichen Sichtweise, der Eigeninteressen und der individuellen Ressourcen. Diese könnten nur ermittelt werden, wenn sie mit ureigensten Erfahrungen, Interessen und Visionen verbunden sind – nach diesen muss gefragt werden.  
  • Aktivierende Befragungen seien keine kurzfristigen Aktionen, sondern der Beginn eines längerfristigen Prozesses. In diesem Prozess seien immer wieder Schlüsselerlebnisse notwendig, zum Beispiel dass im persönlichen Gespräch erlebt werden kann, dass die eigene Meinung wichtig ist bzw. ernst genommen wird. Aktivierung gelinge letztlich dann, wenn die Erfahrung gemacht wird, dass sich das Einbringen lohnt: dass das einzelne Individuum also nicht nur Opfer oder Adressat einer Maßnahme oder eines Konfliktes ist, sondern mitgestaltende Person. Positive Erfahrungen der Selbstwirksamkeit könnten nur dort gemacht werden, wo es wirkliche Konflikte durchzustehen gilt, wo es um Gestaltungskraft, um Macht und konkrete Veränderung geht – und diese bräuchten Zeit.  
  • Aktivierung bedürfe einer qualifizierten (weiteren) Begleitung zur Planung und Durchführung weiterer Schritte.
  • Aktivierende Befragungen seien offensive Einladungen zu einer lebendigen demokratischen Kultur. Dies betreffe insbesondere die Aktivierung benachteiligter Bevölkerungsgruppen, die sich mit ihren Interessen in der Regel nicht in den demokratischen Prozess einbringen, aber für eine stabile Demokratie sehr wichtig sind. Aktivierende Befragungen seien nur dort sinnvoll, wo es eine Wertschätzung für offene demokratische Prozesse gibt. Deshalb sollten vor Beginn der Befragung die Bezüge zu den demokratischen Grundwerten bei Auftraggebenden, Finanzierenden und Durchführenden klar dargestellt und in die Aufträge „eingeflochten“ werden.
  • Es gebe verschiedene Ziele bei Aktivierenden Befragungen. Das Hauptziel sei die Veränderung der Situation im Gemeinwesen im Sinne der dort lebenden Bürgerinnen und Bürgern durch deren Aktion. Damit neue Menschen wirklich aktiv werden, sei es für alle Praktikerinnen und Praktiker notwendig, die Ziele am Anfang zu klären. Ziele von Aktivierenden Befragungen könnten zum Beispiel sein, Bewohnerinnen und Bewohner darin zu unterstützen, sich über ihre eigenen Interessen klar zu werden, eigene Organisationsformen zu entwickeln, die Kontakte zwischen den Bürgerinnen und Bürgern zu intensivieren, die Angebote und Dienstleistungen im Sinne von ressourcenorientierter Arbeit zu verbessern. Wichtige Prinzipien seien dabei, gemeinsam „handlungsmächtig“ werden, Vertraulichkeit zu sichern und Respekt vor verschiedenen Meinungen und Offenheit umzusetzen.
  • Die Ergebnisse der Befragung müssten auch transparent gemacht werden. Die Ergebnisse gehörten zuallererst den Befragten. Pressemeldungen der Professionellen konterkarierten häufig die Aktivierung.
  • Aktivierung erfordere eine glaubwürdige, offene und respektvolle Grundhaltung des Aktivierers bzw. der Aktiviererin.

Der Einsatz der Methode ist aus Sicht der Autorinnen nur dann sinnvoll, wenn drei Faktoren zusammenkommen:

  • materielle Rahmenbedingungen, die Ärger oder Leidensdruck bewirken und Anlass geben, etwas verändern zu wollen,
  • persönliche Ressourcen der Aktivierten; dabei ist das Eigeninteresse und die Erkenntnis, dass sich Aktivwerden lohnt, ganz entscheidend,
  • eine bestimmte Haltung der Aktivierenden, die geprägt sein sollte von Offenheit und Zutrauen in die Handlungsfähigkeit des Aktivierten, sowie die Ergebnisoffenheit des Auftraggebenden.  

Wo liegen die Grenzen der Methode?

  • wenn die Stadtquartiere zu klein oder zu groß sind (z.B. sind ganze Stadtteile in der Regel zu groß, weil persönliche Bezüge und Kontakte fehlen),
  • es gibt keinen Handlungsdruck, Missstände zu beheben,
  • es ist schon absehbar, dass Menschen durch gemeinsames Handeln nichts erreichen können,
  • die Anzahl der Menschen ist zu gering, sodass keine Wahlfreiheit mehr besteht, ob man sich engagieren möchte oder nicht (Engagementanteil von 1 bis 10 Prozent ist empfehlenswert),
  • ungenügende Ressourcen der Menschen (Zeit, Kontakte, Beziehungen, familiäre Netwerke, (Konflikt-)Erfahrungen, Arbeitslosigkeit, Kontaktwünsche, Wunsch nach sinnstiftender Tätigkeit),  
  • es können nicht genügend Menschen gefunden werden, in deren Eigeninteresse es liegt, sich für ein bestimmtes Anliegen zu engagieren,
  • mangelnde Offenheit des Auftraggebenden, der zum Beispiel über Befragungen die Menschen zu bestimmten Meinungen und Haltungen drängen möchte,
  • wenn unklar ist, was mit den Ergebnissen geschieht oder die Ergebnisse manipulativ genutzt werden sollen.

Um die Grenzen der Methode zu erkennen, sei es wichtig, Voruntersuchungen zum Einstieg in die Aktivierende Befragung zu machen. Dabei sollte mittels Vorgesprächen und Erkundungen im Voraus geklärt werden, ob sich ein Gebiet oder ein Auftrag für diese Methode eignet.

Zugriff

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