Studie

Inklusive Bildung zwischen Licht und Schatten

Thema

Bilanz des inklusiven Unterrichts an deutschen Schulen

Herausgeberschaft

Bertelsmann Stiftung (Hg.)

Autoren/Autorinnen

Nicole Hollenbach-Biele/Klaus Klemm

Erscheinungsort

Gütersloh

Erscheinungsjahr

2020

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung

Literaturangabe

Nicole Hollenbach-Biele/Klaus Klemm: Inklusive Bildung zwischen Licht und Schatten. Eine Bilanz nach zehn Jahren inklusiven Unterrichts. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2020.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass sich Deutschland 2009 mit dem Beitritt zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (Art. 24) dazu verpflichtet hat, kein Kind vom Besuch allgemeinbildender Schulen (Grundschulen und weiterführende Schulen) auszuschließen: Die Vertragsstaaten müssen sicherstellen, „dass angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden“, dass für „Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern“, und dass „wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden“ (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen: Die UN-Behindertenrechtskonvention, Berlin 2010).

In der vorliegenden Studie wird untersucht, ob und inwieweit sich Deutschland in den letzten zehn Jahren diesem Ziel angenähert hat und ob entsprechende Maßnahmen umgesetzt wurden. Es wird einen Überblick über Befunde gegeben, die aussagekräftig für den Fortschritt des deutschen Schulsystems hin zu einer inklusiven Landschaft sein können.

In vier Kapiteln wird dargestellt, wo Deutschland und die 16 Bundesländer auf dem Weg zur Umsetzung der UN-BRK stehen, welche Erkenntnisse über die Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern bestehen und welche Erfahrungen die Beteiligten mit inklusivem Unterricht gemacht haben:

  • Kapitel 1: Erkenntnisse aus bildungsstatistischen Analysen zum Stand der Inklusion in den Bundesländern mit Fokus auf länderspezifischen Exklusionsquoten (Schuljahr 2018/19 und Entwicklung seit dem Schuljahr 2008/2009),
  • Kapitel 2: empirische Befunde von Studien zu den Wirkungen der Inklusion und vergleichende Untersuchungen zur Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf,
  • Kapitel 3: Ergebnisse ausgewählter Befragungen, wie der Unterricht in inklusiv und nicht inklusiv arbeitenden Lerngruppen wahrgenommen wird, ergänzt durch aktuelle Daten zu den Erfahrungen von Eltern mit Inklusion als wichtigem Gradmesser für den „Erfolg“ der Reform,
  • Kapitel 4: Prognosen der 16 Bundesländer zur Entwicklung der Zahlen von Schülerinnen und Schülern an Förderschulen (als wichtige Grundlage für Personalbedarfsplanung und regionale Schulentwicklungsplanung).

Wichtige Ergebnisse

Wichtige Ergebnisse der Untersuchung

Ein wesentliches Ergebnis ist, dass Deutschland insgesamt beim Abbau des „exklusiven“ Unterrichtens in Förderschulen nur langsam vorankommt: 2008/09 wurden 4,8 Prozent aller Kinder der Jahrgangsstufen 1 bis 9 oder 10 in Förderschulen unterrichtet. Zehn Jahre später waren es immer noch 4,2 Prozent. Im Schuljahr 2018/19 wurden deutschlandweit fast 26.000 Schülerinnen und Schüler aus Grundschulen und weiterführenden Schulen in Förderschulen überwiesen. Dabei zeigten sich in den einzelnen Bundesländern große Unterschiede bei der Annäherung an die UN-Zielsetzung: In manchen Ländern wie Baden-Württemberg, Bayern oder Rheinland-Pfalz ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die Förderschulen besuchen, nach 2008/09 sogar noch gestiegen. In anderen Ländern wie in den drei Stadtstaaten oder im Flächenland Schleswig-Holstein ist dieser Anteil deutlich gesunken.

In der Forschung seien deutliche Hinweise auf empirischer Basis herausgearbeitet worden, dass das gemeinsam schulische Lernen viele Vorteile hat: Es gebe keinen Hinweis darauf, dass Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die an Schulen in inklusiven Lerngruppen lernen, im Vergleich zum Lernen in Förderschulen geringere Lernfortschritte machen würden. Vielmehr weise Vieles darauf hin, dass Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf tendenziell besser in inklusiven Klassen als in Förderschulen lernen. Bisher vorliegende Studien würden im Leistungsbereich eher Vorteile des inklusiven Lernens sehen, im Feld der schulischen Motivation und des Wohlbefindens in der Schule teils Vorteile des inklusiven und teils Vorteile des exklusiven Lernens. Gleichzeitig hätten auch Schülerinnen und Schüler ohne Förderbedarf im fachlichen Lernen keine Nachteile und profitierten in anderen Lernbereichen vom gemeinsamen Lernen.

Acht Bundesländer veröffentlichen in ihrer offiziellen Statistik Daten zu den erreichten Schulabschlüssen. Diese belegen nach Ansicht der Autoren, dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht den Hauptschulabschluss seltener verfehlen als jene in Förderschulen.

Auch die Einstellung der Gesamtbevölkerung zur schulischen Inklusion fällt überwiegend positiv aus: In aktuellen Umfragen befürwortet eine große Mehrheit gesellschaftliche Inklusion ebenso wie das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen. Gut drei Viertel aller Befragten stimmen der Feststellung zu, dass ein inklusives Schulsystem zu mehr Toleranz sowie zu einem besseren Miteinander führt und die Bereitschaft zum sozialen Engagement erhöht.

Deutlich wird auch, dass Eltern grundsätzlich den inklusiven Unterricht akzeptieren. Dabei variiert in Umfragen die Zustimmung zum gemeinsamen Lernen je nach Förderschwerpunkt deutlich. Im Hinblick auf Kinder und Jugendliche mit körperlich-motorischen Beeinträchtigungen fällt sie sehr hoch aus, bei den Förderschwerpunkten Sprache und Lernen befürworten mehr als zwei Drittel aller Eltern den gemeinsamen Unterricht. Dagegen stehen beim Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung nur etwa ein Drittel der schulischen Inklusion positiv gegenüber.

In aktuellen Umfragen zeige sich, dass inklusionserfahrene Eltern insgesamt zufriedener mit den Schulen, Klassen und Lehrkräften ihrer Kinder sind. Vor allem Eltern, deren Kinder eine nicht inklusive Schule besuchen, äußerten sich häufiger verhalten zu den Potenzialen von Inklusion. So bewerteten Eltern inklusiv lernender Kinder die Qualität des Unterrichts in inklusiven Lerngruppen überwiegend positiver als Eltern, deren Kinder in nicht inklusiven Gruppen lernen. Kritik werde vor allem an der mangelhaften Raum- und Personalausstattung inklusiver Schulen geübt – und zwar von Eltern und Lehrkräften.

Insbesondere aktuelle Befragungen unter Lehrkräften zeigten, dass sich ein beträchtlicher Teil von ihnen (je nach Umfrage ein Drittel bis die Hälfte aller Befragten) für die Arbeit in inklusiven Klassen unzureichend vorbereitet und schlecht begleitet fühlt. Tendenziell würden sie lieber keine inklusive Klasse als Klassenlehrer*in übernehmen.

Die Autor*innen der Studie gehen davon aus, dass auch in den kommenden Jahren die Exklusionsquote nicht sinken wird: Aus den Planungen der Bundesländer sei ablesbar, dass im Durchschnitt aller Bundesländer der Anteil der Kinder, die in Förderschulen unterrichtet werden, bis 2030/31 auf dem 2018/19 erreichten Niveau von 4,2 Prozent verharren wird. Demnach sei für Deutschland insgesamt nicht mit einem Fortschritt bei der Annäherung an die Zielsetzungen der UN-Konvention zu rechnen. Hinter diesem Durchschnittswert würden allerdings auch erhebliche länderspezifische Unterschiede bestehen: In Ländern wie Bayern, Hessen oder auch Mecklenburg-Vorpommern wird mit wieder wachsenden Anteilen der Kinder und Jugendlichen, die in Förderschulen lernen, geplant. Dagegen planen Länder wie die drei Stadtstaaten, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein mit weiter sinkenden Anteilen.

Eine wichtige Schlussfolgerung lautet, dass die Möglichkeiten der Bundesländer, Schulentwicklungsprozesse hin zur inklusiven Schule voranzubringen, angesichts des großen Lehrkräftemangels stark eingeschränkt sind: Zu konstatieren sei ein erheblicher Mangel an sonderpädagogisch qualifizierten Lehrkräfte, Grundschullehrkräften und Lehrkräften für die nicht gymnasialen Schulformen des Sekundarbereichs I.