Handreichung

Kriterien für eine „gute“ Heimerziehung

Thema

Qualitätsentwicklung in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe

Herausgeberschaft

Bertelsmann Stiftung (Hg.)

Autoren/Autorinnen

Joachim Merchel

Erscheinungsort

Gütersloh

Erscheinungsjahr

2020

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung

Literaturangabe

Joachim Merchel: Kriterien für eine „gute“ Heimerziehung. Qualitätsentwicklungsvereinbarungen in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe. Schriftenreihe Materialien zum Wissenstransfer, Band 8. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2020.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Im Jahr 2011 haben die Landesregierung Nordrhein-Westfalen und die Bertelsmann Stiftung das Modellvorhaben „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“ (KeKiz) ins Leben gerufen. Anliegen dieser Initiative ist es, gemeinsam mit den beteiligten Modellkommunen allen Kindern und Jugendlichen bestmögliche Chancen für ein gelingendes Aufwachsen und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen – und das unabhängig von ihrer Herkunft. Ziel der Begleitforschung ist es, Gelingensbedingungen kommunaler Präventionsarbeit zu identifizieren sowie Gestaltungsoptionen einer wirksamen Erziehungshilfe aufzuzeigen. Die Bertelmann Stiftung verantwortet die Begleitforschung gemeinsam mit ihren wissenschaftlichen Partnern. In der vorliegenden Schriftenreihe werden in unregelmäßigen Abständen Einblicke und Erkenntnisse aus den begleitenden Veranstaltungen veröffentlicht. Dazu gehört die Beschäftigung mit der Frage, wie Erziehungshilfen auf kommunaler Ebene wirksam gestaltet werden können.

Im Jahr 2015 hat sich die Bertelsmann Stiftung mit dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. und dem Deutschen Jugendinstitut (zusammen mit dem Forschungsverbund DJI/TU Dortmund) darauf verständigt, im Rahmen eines Kooperationsverbundes einige Inhalte gemeinsam zu bearbeiten – so auch das Forschungsprojekt des DJI „Gute Heime – Möglichkeiten der Sichtbarmachung der Qualitäten von stationären Hilfen zur Erziehung“. Ziel der Studie ist es, Qualitätsdimensionen aus Sicht von Fachakteuren wie auch Kindern und Jugendlichen zu identifizieren und somit einen Austausch über Qualitätsmaßstäbe in den stationären Hilfen zur Erziehung anzustoßen und einrichtungsübergreifend weiterzuentwickeln. Daran anschließend hat die Stiftung gemeinsam mit Prof. Dr. Joachim Merchel eine vierteilige Workshop-Reihe veranstaltet, bei der Praktiker*innen aus Jugendämtern, Erziehungshilfeträgern sowie aus Verbänden, Ministerien und Landesjugendämtern darüber diskutierten, wie die Ergebnisse der DJI-Studie in der Praxis nutzbar gemacht werden können. Die Ergebnisse werden in dieser Handreichung dargestellt und ein Vorschlag für ein dialogisch ausgerichtetes Verfahren der Qualitätsentwicklung vorgestellt, mit dem der gesetzliche Auftrag der Qualitätsentwicklungsvereinbarungen fachlich gestaltet werden kann.

Wichtige Ergebnisse

Wichtige Ergebnisse

Orientierungen für eine fachlich und prozessual produktive Gestaltung von Qualitätsentwicklungsvereinbarungen (QEV)

Ein Ort für die praktische Umsetzung der Qualitätsaspekte von „guten“ Heimen sind Qualitätsentwicklungsvereinbarungen (QEV).

1. Fachliche Perspektiven

Folgende inhaltlichen Gesichtspunkte sollten in QEV berücksichtigt werden:

  • Das Thematisieren von „Qualität“ und das Bemühen um Qualitätsentwicklung in QEV sind insbesondere für solche Aspekte bedeutsam, bei denen Unsicherheiten und Schwierigkeiten sichtbar werden und die dadurch einer gemeinsamen fachlichen Erörterung zugänglich gemacht werden sollten.
  • Qualitätsdiskurse im Kontext von QEV müssen die Frage einbeziehen, ob und wie es in einer Einrichtung gelingt, diese Ambivalenzen wahrzunehmen, den Umgang mit ihnen zu beobachten und die Beobachtungen in Diskurse einzuspeisen – und  somit nicht in Gefahr zu geraten, die Widersprüche einseitig auflösen zu wollen.
  • Die relative Kongruenz von Konzeption und „gelebtem Alltag“ erweist sich im Blick der Außenstehenden, insbesondere bei den Fachkräften im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der Jugendämter, als ein elementares Qualitätskriterium für eine Einrichtung der Heimerziehung.
  • Die Qualität der Hilfeplanung sollte in die QEV einbezogen werden.
  • In Aushandlungen zu QEV sollte differenziert werden zwischen generellen Qualitätsthemen und -kriterien einer allgemein „gute“ Heimerziehung und den organisations- und konzeptspezifischen Qualitätskriterien, die das Profil der jeweiligen Einrichtung kennzeichnen.
  • Bei der Gestaltung einer QEV sollten insbesondere drei Aspekte einbezogen und reflektiert werden: 1. Beteiligung der Leistungsadressat*innen (Kind, Jugendlicher, junger Erwachsener, Elternteile) sowohl bei der Hilfeplanung als auch im Alltag der Einrichtung, 2. Verselbstständigung als Orientierungspunkt für die Gestaltung der Hilfe bzw. selbstständige Lebensführung des jungen Menschen mit der Volljährigkeit als Orientierungspunkt beim sozialpädagogischen Handeln, 3. Umgang mit dem Spannungsfeld von Regelhaftigkeit und Individualität im Erziehungsgeschehen, das in der jeweiligen Gruppenkonstellation in einer spezifischen Weise zu erarbeiten ist.

2. Prozessbezogene Perspektiven

Folgende prozessuale Aspekte sollten bei Konzipierungen und Aushandlungen zu QEV bedacht werden:

  • Es ist notwendig, sich explizit über – vielfach implizite und eher „gefühlte“ – Kriterien zu verständigen, an denen „Qualität“ festgemacht wird; nur über diese Transparenz kann Qualität auch zu einer diskursfähigen Kategorie gemacht werden.
  • Bei der Definition der relevanten Qualitätskriterien und bei der Qualitätsbewertung sollten die Sichtweisen der Leistungsadressat*innen (Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Elternteile) einbezogen werden, weil deren Sicht auf Qualität Dimensionen in den Mittelpunkt rückt, die für einen Erfolg des Erziehungsgeschehens bedeutsam sind, die aber die Fachkräfte bisweilen aus dem Blick verlieren oder in ihrem Stellenwert nicht ausreichend würdigen.
  • „Qualität“ ist als Teil eines Prozesses zu sehen, der auf Aushandlungen zwischen Einrichtung und Jugendamt auf Augenhöhe zielt. Deshalb sollte der Prozess der Hilfeplanung in die Qualitätsbewertung einbezogen und als wichtiger Faktor in den QEV berücksichtigt werden.
  • Die Beteiligten sollten sich zunächst auf einige, in ihrem Umfang bearbeitbare Aspekte beschränken. In nachfolgenden Zeitzyklen können dann weitere Teilprozesse und weitere Qualitätskriterien zum Gegenstand der Qualitätsentwicklung gemacht werden.
  • Verfahrenstransparenz ist bereits zu Beginn der Prozesse sehr wichtig. Dabei sollten solche Prozessmodalitäten verabredet werden, die die Chancen einer dialogischen Qualitätsentwicklung erhöhen.

Als geeignetes Verfahren der Qualitätsentwicklung wird die Methodik der strukturierten Selbstbewertung vorgeschlagen, die an die Verfahrenslogik des Konzepts der „European Foundation for Quality Management“ (EFQM) angelehnt ist.

Ablauf/Verfahrensschritte zur Umsetzung einer dialogisch und prozessual ausgerichteten Qualitätsentwicklungsvereinbarung (QEV) in den Erziehungshilfen (Selbstbewertung nach dem EFQM-Konzept)

  • Vorab: Zusammensetzung einer kleinen Gruppe (Jugendamt/ASD und Einrichtung), die den Prozess steuert und fachlich-methodisch begleitet; Benennung von einer oder zwei Moderationspersonen mit Fach- und Moderationskompetenz
  • 1. Schritt: Verständigung auf ein Verfahren der gemeinsamen Qualitätsbewertung und Qualitätsentwicklung zur Prozess- und/oder Ergebnisqualität in der Einrichtung und im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD)
  • 2. Schritt: Verständigung auf diejenigen Handlungsbereiche bei der Einrichtung und beim ASD, die in das Verfahren bzw. in den ersten Schritt des Verfahrens einbezogen werden sollen
  • 3. Schritt: Gemeinsame Erörterung und Verständigung auf Kriterien, die die Qualität des pädagogischen Handelns in den Handlungsbereichen ausmachen sollen; dabei Überlegungen zur Einbeziehung der Perspektiven der Adressat*innen
  • 4. Schritt: Erarbeitung von Instrumenten (z.B. Einschätzungsbögen), mit deren Hilfe Qualitätsdiskurse initiiert und strukturiert werden sollen; dabei Überlegungen, mit welchen Instrumenten die Perspektiven der Adressat*innen in angemessener Weise erhoben werden können
  • 5. Schritt: Verabredungen zum Einsatz der entwickelten Instrumente (Zeitraum; Fachkräfte und Leistungsadressaten, die Einschätzungen vornehmen sollen etc.) und Modus der Auswertung (Darstellung der Ergebnisse; Orte der Auswertungsdiskurse; beteiligte Personen etc.)
  • 6. Schritt: Gemeinsame Diskurse zur Auswertung der Ergebnisse und Diskussionen zu den Schlussfolgerungen (bei Einrichtung und Jugendamt/ASD)
  • 7. Schritt: Verabredungen zum Modus und zu Zeitpunkten der gemeinsamen Überprüfung zur Umsetzung der Schlussfolgerungen
  • 8. Schritt: Nach verabredetem (längerem) Zeitraum: gemeinsame Überlegungen, ob neue Handlungsbereiche in die gemeinsame Qualitätsentwicklung aufgenommen werden sollen bzw. ob bestimmte Qualitätsbereiche übergangen werden sollen.