Studie mit Handlungsempfehlungen

Lehrplanstudie Migration und Integration

Thema

Diversitätssensible Bildung im Schulunterricht

Herausgeberschaft

Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hg.)

Autoren/Autorinnen

Hans Vorländer/Oliviero Angeli/Ender Yilmazel/Francesca Barp

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2021

Stiftungsengagement

Stiftung Mercator

Literaturangabe

Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hg.): Lehrplanstudie Migration und Integration. Studie von MIDEM, Mercator Forum Migration und Demokratie der Technischen Universität Dresden. Berlin 2021.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Hintergrund ist, dass rund ein Viertel der Menschen in Deutschland eine familiäre Einwanderungsgeschichte haben und Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die gesellschaftliche Vielfalt sei für die allermeisten Kinder und Jugendlichen inzwischen selbstverständlich. Deshalb sei es von zentraler Bedeutung, dass sich diese Vielfalt auch im Schulunterricht und in den Lehrmaterialien widerspiegelt – so die Auffassung der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Annette Widmann-Mauz MdB. In ihrem Auftrag führte das Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) eine Studie durch, um herauszufinden, inwiefern die Themen Migration und Integration in den Lehrplänen deutscher Schulen Eingang gefunden haben und die Realität der deutschen Einwanderungsgesellschaft widerspiegeln.

Analysiert wurden dafür die Lehrpläne der Fächer Geografie, Geschichte und Politik/Gemeinschaftskunde der Klassenstufen sieben bis zehn in den Ländern Bayern, Berlin und Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen, sowie die Schulgesetze und einschlägigen Beschlüsse der Kultusministerkonferenz. Darüber hinaus wurden leitfadengestützte Interviews mit ausgewählten Expertinnen und Experten der Lehrplanentwicklung und der Lehrkräftefortbildung und den Lehrkräften selbst durchgeführt. Die Ergebnisse der Interviews sind nicht repräsentativ, erlauben jedoch eine Einsicht in die unterschiedlichen Perspektiven auf Lehrpläne.

Das Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) ist ein interdisziplinäres Forschungszentrum der Technischen Universität Dresden, gefördert durch die Stiftung Mercator. Es beschäftigt sich mit der Frage, wie Migration demokratische Politiken, Institutionen und Kulturen prägt und zugleich von ihnen geprägt wird. Untersucht werden Formen, Instrumente und Prozesse politischer Verarbeitung von Migration in demokratischen Gesellschaften – in einzelnen Ländern und im vergleichenden Blick auf Europa. Verfasst wurde die Studie von Prof. Dr. Hans Vorländer, Dr. Oliviero Angeli, Ender Yilmazel und Francesca Barp. Die Autor*innen zeigen auch auf, an welchen Stellen angesetzt werden kann, um Schulentwicklungsinstitute und Landesbehörden gezielt bei der Lehrplanüberarbeitung zu unterstützen.

Wichtige Ergebnisse

Wichtige Ergebnisse der Analyse

Die Autor*innen kommen zu folgenden Schlussfolgerungen:

  • Lehrpläne besitzen eine Rahmenfunktion, geben Kompetenzen und Ziele vor und leiten schulische Praxis an. Ihre inhaltliche Konkretisierung und Aktualisierung erfahren sie im Unterricht. Lehrpläne werden von Lehrplankommissionen überarbeitet, die Schulentwicklungsinstitute bzw. Landesbehörden im Auftrag der Kultusministerien einberufen. Festzustellen sei, dass es keine länderübergreifenden einheitlichen Verfahren der Fortentwicklung von Lehrplänen gibt. Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz (KMK) hätten insgesamt mehr Einfluss auf die inhaltliche Überarbeitung von Lehrplänen als die Landesschulgesetze.
  • Lehrpläne gewichten die Themen Migration und Integration je nach Land und Fach unterschiedlich: Im Fach Geographie stehe Migration besonders häufig im thematischen Zusammenhang mit Verstädterung, globalen Disparitäten und Bevölkerungswachstum, im Fach Geschichte dagegen mit Vertreibung, Krieg und Kolonialismus sowie mit dem Prozess der europäischen Integration. Im Fach Politik gehe es im Zusammenhang mit Migration häufig um Fragen von Identitätsbildung, Rassismus und Toleranz sowie um Menschenrechte und um Europa.
  • Die Realität Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft spiegele sich nicht systematisch in den Lehrplänen wider. Zwar zeigten viele der untersuchten Lehrpläne globale Verflechtungen auf und thematisierten Migrationsbewegungen, doch Deutschland als Einwanderungsgesellschaft werde als solche nicht systematisch in den Lehrplänen behandelt. Weder die historischen Entwicklungen noch die Herausforderungen seien in den Lehrplänen für den Unterricht vorgesehen. Migrationsbedingte Vielfalt und Fragen nach Identität und Zugehörigkeit würden nur selten thematisiert.
  • Migrations- und Integrationsphänomene seien überwiegend mit krisenhaften Entwicklungen verknüpft. Dabei könnten Krisenszenarien und -narrative den Blick davor verstellen, dass Migration von der Gastarbeiteranwerbung in den 1950er- und 1960er-Jahren bis hin zur Fachkräftemigration längst Bestandteil gesellschaftlicher Normalität ist. Auch werde damit die Bedeutung der Integration als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verkannt.
  • Menschen mit Migrationsgeschichte seien in den Lehrplankommissionen deutlich unterrepräsentiert. In die Aus- und Überarbeitung von Lehrplänen sei wissenschaftliche Expertise selten fest eingebunden. Neuere (diversitätssensible) Konzepte zum Umgang mit Vielfalt fänden kaum Berücksichtigung.
  • Die Themen Migration und Integration würden im Wesentlichen von den Lehrkräften in der schulischen Praxis erschlossen. Die Schulpraxis zeige aber: Wenn Migration und Integration im Lehrplan nicht explizit aufgeführt werden, würden sie den Eingang in den Unterricht auch nur selten schaffen.
  • Einem optimalen Transfer in die Praxis stünden eine Reihe von Faktoren im Wege: Erstens, der Faktor Zeit; im Schulalltag reiche die Zeit oftmals nicht aus, um sich über die prüfungsrelevanten Inhalte der Lehrpläne hinaus mit den Themen Migration, Vielfalt und Integration im Unterricht zu befassen. Zweitens prägten Vorbehalte und Unsicherheiten den Umgang mit migrationsbezogenen Themen. Drittens mangele es an einer spezifischen, auf Migration und Integration ausgerichteten Aus- und Fortbildung von Lehrkräften.
  • Schulbücher würden bisweilen als „heimlicher Lehrplan“ gelten, doch gelinge die Übersetzung der Lehrpläne in die schulische Praxis durch Schulbücher nur bedingt. Große Bedeutung kämen den von Lehrkräften eigenständig gewählten Lehrmaterialien zu.
  • Empfohlen wird, Migration, Vielfalt und Integration in den Lehrplänen erstens explizit, zweitens auch auf der Ebene der prüfungsrelevanten Sachinhalte und drittens im Rahmen einer Bildung über Deutschland als Einwanderungsgesellschaft zu verankern. Insbesondere die zentralen Migrationsbewegungen nach Deutschland sollten, unter Einbeziehung migrantischer Perspektiven, berücksichtigt werden. Eine Einbindung von Lehrkräften mit Migrationsgeschichte und migrationspädagogischen Fachdidaktiker*innen in den Prozess der Überarbeitung von Lehrplänen sollte sichergestellt werden. In der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte sollten Module über Migration, Vielfalt und Integration verankert werden.

Handlungsempfehlungen für Politik und Praxis

  • Das Verständnis von Deutschland als Einwanderungsgesellschaft in den Lehrplänen entwickeln

Deutschland als Einwanderungsgesellschaft werde in den Lehrplänen bislang kaum thematisiert: Weder die historischen Entwicklungen, die zur migrationsbedingten Vielfalt in Deutschland geführt haben, noch die Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft seien in den Lehrplänen ausreichend wiederzufinden. Dazu gehöre die Behandlung zentraler historischer Migrationsbewegungen nach Deutschland: von den Vertriebenen der Nachkriegszeit über die Anwerbung von ‚Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern‘ bis hin zu den Bewegungen im Rahmen der EU-Freizügigkeit und aktuellen Fluchtbewegungen nach Deutschland. Die mit den vergangenen und gegenwärtigen Migrationsbewegungen verbundenen Veränderungen in der deutschen Gesellschaft seien nicht nur für die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler wesentlich, sondern auch für die Herausbildung eines Zugehörigkeitsgefühls. Dabei gehe es bei der Bildung in einer vielfältigen Gesellschaft auch um die Sichtbarmachung individueller und kollektiver Migrationsgeschichten.

  • Migration und Integration in Lehrplänen verankern

Die Themen Migration und Integration sollten integraler Bestandteil der Lehrpläne auf der Ebene der prüfungsrelevanten Sachinhalte werden und im Rahmen einer Bildung über Deutschland als Einwanderungsgesellschaft verankert werden. Angesichts der Zeitknappheit im schulischen Unterricht würden migrations- und integrationsbezogene Themen, die nur in den allgemeinen Kompetenzen erwähnt, aber in den Ausführungen zur Unterrichtsgestaltung ausgespart werden, häufig nicht im Unterricht umgesetzt.

  • Vielfalt stärker in die inhaltliche Lehrplangestaltung einbeziehen

Es wird angeregt, in den Lehrplänen eine stärkere Orientierung hin zu „diversitätssensibler Bildung“ zu vollziehen. Dies könne dazu beitragen, die zunehmende – auch migrationsunabhängige – Vielfalt, den gesellschaftlichen Wandel und den Hybridcharakter von Zugehörigkeiten wie auch die Notwendigkeit, alle (verschränkten) Formen von Diskriminierung zu reflektieren und Herabwürdigung entgegenzuwirken.

  • Die Arbeit der Lehrplankommissionen begleiten: Dialogforen eröffnen, wissenschaftliche Expertise einbeziehen und die Zusammensetzung diverser gestalten

Es sollten Formate entwickelt werden, in denen die Schulentwicklungsinstitute und Landesbehörden bundesweit regelmäßig in Dialog über die Lehrpläne und ihre Überarbeitungen treten können. Der Dialog über Lehrplanüberarbeitungen könne Best Practices für andere Länder nutzbar machen, Prozesse vereinfachen und den fachlichen Austausch über inhaltliche Schwerpunkte der Lehrpläne ermöglichen. Wissenschaftliche Perspektiven sollten in diese Formate einbezogen werden. Auch die Lehrplankommissionen sollten in allen Bundesländern wissenschaftliche Expertise (aus der Migrations-, Integrationsforschung und der Fachdidaktik) in die Lehrplanüberarbeitung einbeziehen. Migrationspädagogische Bildungsvereine (insbesondere Migrantenselbstorganisationen aus dem Bildungsbereich) könnten eine beratende Funktion ausüben oder fester Bestandteil der Kommission werden. Um in den Lehrplankommissionen die migrationsbedingte Vielfalt Deutschlands widerzuspiegeln, sei die Vertretung eines angemessenen Anteils von Menschen mit Migrationsgeschichte wichtig – dies gelte auch für den Lehrberuf insgesamt.

  • Verpflichtende Module zu migrationsbedingter Vielfalt in der Aus- und Fortbildung für Lehrkräfte

Lehrkräfte sollten für den Transfer migrationsbezogener Themen ausgebildet werden. Hierfür sei die Erarbeitung und Implementierung von Ausbildungsmodulen erforderlich, die die Lehrkräfte inhaltlich, didaktisch und pädagogisch ertüchtigen, migrations- und integrationsbezogene Themen und Probleme diversitätssensibel im Klassenzimmer zu behandeln. Zugleich könnten Lehrkräfte damit in Aus- und Fortbildung befähigt werden, ihr eigenes Wissen und ihre eigene Stellung kritisch zu reflektieren, um damit auch Situationen der Überforderung entgegenwirken zu können. Was für die Ausbildung gilt, gelte entsprechend auch für die Fortbildungen und die Fortbildungskataloge der Schulentwicklungsinstitute und Landesbehörden.

  • Transferprozesse von Diversitätssensibilität in die schulische Praxis verbessern

Die administrative Steuerungsfunktion durch Lehrpläne sei beschränkt. Für eine optimale Entfaltung der Inhalte bedürfe es deshalb flankierender Maßnahmen. Schulentwicklungsprozesse und die Einbindung multiprofessioneller Teams seien zentral, um diversitätssensible Bildung als Querschnittsaufgabe im Schulalltag zu verankern. Außerschulische Bildungsvereine und Migrantenselbstorganisationen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendarbeit könnten in solchen Prozessen wichtige Impulse geben: zu einer diversitätssensiblen Schulkultur, zu Unterrichtsmaterialien, Konfliktlösungsstrategien und internen Fortbildungsangeboten.

  • Digitale Lehrmaterialien zu Migration und diversitätssensibler Bildung bereitstellen

Die Schulentwicklungsinstitute und Landesbehörden sollten in den Lehrplänen anregen, dass Lehrmittel in digitaler Form zu migrationsbezogenen Themen zur Verfügung stehen. Geeignete Lehrmittel könnten Lehrplanbezüge herstellen, aktuelle Fragestellungen der Migrationspädagogik entfalten und eine schnelle und flexible Unterrichtsgestaltung ermöglichen. Die Lehrmaterialien müssten dann qualitätssichernd von den Schulentwicklungsinstituten begleitet werden.

  • Weitere Forschung vorantreiben

Zum besseren Verständnis der Rolle von Migration und Integration in der schulischen Bildung sollte eine Lehrplananalyse über die in der vorliegenden Studie untersuchten Fächer und Bundesländer hinaus ausgeweitet werden. Auch eine vergleichende Analyse verschiedener Schulformen (unter Einbezug von Grundschulen, Hauptschulen und Berufsschulen) könnte weitere Erkenntnisse über altersspezifische Unterschiede und die Zielsetzungen der Schulformen bzgl. Migrations- und Integrationsthematiken bringen. Zudem könnte eine neue Untersuchung Aufschluss darüber geben, wie dieser Transfer von Lehrplaninhalten in den Schulen organisiert wird und wer maßgeblich am Transfer beteiligt ist. Mit Blick auf die Lehrkräfteausbildung sei es wünschenswert, eine systematische Analyse beider Ausbildungsphasen (Studium und Referendariat) von Lehrkräften anzustrengen. Eine inhaltliche Erforschung der bestehenden Angebote im Bereich der Lehrkräftefortbildungen zu Themen Migration und Integration sei ebenfalls wichtig, um den Transfer migrationspädagogischer Konzepte in die Praxis von Fortbildung und Schule zu evaluieren.