Studie mit Handlungsempfehlungen

Leseförderung mit digitalen Medien

Thema

Digitale Medien als Instrument der Leseförderung

Herausgeberschaft

Stiftung Digitale Chancen

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Stiftung Digitale Chancen

Literaturangabe

Stiftung Digitale Chancen (Hrsg.): Leseförderung mit digitalen Medien. Tipps und Erfahrungen für die Praxis. 5 Jahre „Lesen macht stark: Lesen und digitale Medien“. Berlin 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass Kinder und Jugendliche in einer medial geprägten Lebenswelt aufwachsen und der Erwerb von Lesekompetenz eine grundlegende Voraussetzung ist, um am Leben in einer digitalen Gesellschaft teilzunehmen und diese aktiv mitzugestalten. Die Lust am Lesen ist allerdings nicht als selbstverständlich zu betrachten, sondern wird durch bestimmte Rahmenbedingungen während der eigenen Lesesozialisation gefördert. Sind diese nicht mehr gegeben, kann die Leselust auch wieder verkümmern. Nach den Ergebnissen von empirischen Studien spielt das Vorlesen in der Familie im Vorschulalter, aber auch der Leseunterricht in der Grundschule eine wichtige Rolle. Erst wenn Kinder Texte in ihrer Gesamtheit erfassen und verstehen können, trete die „kindliche Leselust“ ein und die Kinder vertieften sich selbstständig in das Lesen. Dies würden allerdings nur selten Kinder schaffen, denen wenig bis gar nicht vorgelesen wurde. Aufgrund der überwiegend technischen Vermittlung von Lesen und Schreiben in der Schule könne es mit zunehmendem Alter dann zu einem deutlichen Einbruch oder auch Stillstand des Leseverhaltens kommen, vor allem bei Jugendlichen mit ohnehin begrenzten Lesekenntnissen.

Beim Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen wurden verschiedene Faktoren herausgearbeitet, die die Entwicklung von Leselust und Lesekompetenz beeinflussen. Mit Hilfe von Smartphones und Tablets, die auch in den familiären Haushalten vorhanden sind (vgl. KIM- und JIM-Studie 2016), könnten besonders Kinder und Jugendliche erreicht werden, die in ihrer Freizeit bisher wenig selber lesen bzw. vorgelesen bekommen haben.

Digitale Medien würden dabei einen spielerischen und niedrigschwelligen Zugang zum Lesen und Verstehen von Texten bieten, wovon besonders leseschwächere Kinder und Jugendliche profitieren könnten.

In vorliegender Broschüre wird dargestellt, wie die Lesekompetenz bei Kindern und Jugendlichen gefördert werden könnte. Die Ergebnisse basieren auf Erfahrungen aus fünf Jahren digitaler Leseförderung im Projekt „Lesen macht stark: Lesen und digitale Medien“ des Deutschen Bibliotheksverbands e.V. in Kooperation mit der Stiftung Digitale Chancen im Rahmen des Förderprogramms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ (2013–2017) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).

Ziel war die Unterstützung von Projekten der Leseförderung mit digitalen Medien von sozial- und bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen im Alter von 3 bis 18 Jahren. In altersgerechten Aktionen wurde die klassische Leseförderung durch digitale Angeboten erweitert. Dabei stand eine eigenständige und kreative Mediennutzung der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen an erster Stelle. Ausgangspunkt war immer ein (vor)gelesener Text, der als Grundlage für eine gemeinsame Weiterentwicklung mithilfe von digitalen Medien diente, etwa mit Social Media-Anwendungen, Gaming, Geo- oder Edu-Caching und Film- oder Hörspielprojekten. Durch die Einbindung bekannter digitaler Medien und medialer Formate erhielten die beteiligten Kinder und Jugendlichen einen leichten und spielerischen Zugang zum Lesen.

Die Publikation enthält auch Praxistipps zur Umsetzung von Projekten der Leseförderung mit digitalen Medien. Sie richtet sich unter anderem an Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit sowie Pädagoginnen und Pädagogen.

Eine wissenschaftliche Auswertung der Projektergebnisse erfolgte durch Prof. Dr. Henrike Friedrichs-Liesenkötter und Tanja Bartmann (Leuphana Universität Lüneburg) sowie Sandra Liebender und Carolin Müller-Bretl (Stiftung Digitale Chancen). Hierfür wurden 21 Telefoninterviews sowie fünf Fokusgruppeninterviews mit haupt- und ehrenamtlichen Projektausführenden aus den Jahren 2014/15 einer Inhaltsanalyse unterzogen und eine quantitative Fragebogenerhebung mit Ehrenamtlichen (Befragungen von 2013–17) ausgewertet.

Wichtige Ergebnisse

Folgende Praxistipps wurden auf Basis der Projekterfahrungen formuliert:

1. Das Interesse der Kinder und Jugendlichen für digitale Medien nutzen:

Digitale Medien gehören zum Alltag von Kindern und Jugendlichen. Wenn sie im Rahmen von Bildungsprojekten eingesetzt werden, können sie die Motivation zur Beteiligung erhöhen und einen niedrigschwelligen Zugang bieten. Kinder und Jugendlichen können damit leichter ihre Ängste und individuellen Hemmungen – insbesondere beim Lesen und Schreiben – überwinden. Die Geräte, die sie sonst zum Spielen oder zum Austausch mit Freundinnen und Freunden eher konsumierend benutzen, können dann zu einer kreativen und produktiven Nutzung anregen, zum Beispiel beim Lösen von Rätseln oder beim Schreiben des Abspanns eines selbst produzierten Videos.

2. Die Kinder und Jugendlichen beteiligen:

Kinder und Jugendliche sollten in den unterschiedlichen Phasen ihrer Lesekompetenz- und Identitätsentwicklung mit ihren Interessen ernst genommen und in die Planung von Projekten eingebunden werden. Sie sollten ihre Meinung angstfrei formulieren und ihre Ideen umsetzen können. Bei der Gruppenzusammensetzung könnten Alters- und Kompetenzunterschiede dadurch kompensiert werden, dass innerhalb der Gruppe die Kinder und Jugendlichen in kleinen Teams arbeiten und entscheiden, in welcher Form ein Produkt entstehen soll. Dabei können alle Beteiligten ihre individuellen Stärken einbringen. Am Ende sollte nicht nur das fertige Produkt, sondern auch der Weg dorthin zählen.

3. Miteinander, voneinander und übereinander lernen:

Meist beherrschen Kinder und Jugendliche den technischen Umgang mit digitalen Geräten sehr gut, doch bräuchten sie Unterstützung für die Bewertung und Einschätzung digitaler Inhalte. In Projekten zur Leseförderung mit digitalen Medien sollten die Lehrkräfte eine Rolle als Lernbegleitung einnehmen und einen Raum des gemeinsamen Erlebens schaffen. Es sei wichtig, die Kinder und Jugendlichen als Expertinnen und Experten wahrzunehmen und sie auch mitentscheiden lassen, welches mediale Format sie bei bestimmten Themen nutzen möchten. Die Lehrkräfte sollten auf den pädagogischen Zeigefinger verzichten und vielmehr offen und interessiert am Wissen der Kinder und Jugendlichen über digitale Medien sein und sich mit ihnen austauschen. Entscheidungen sollten gemeinsam auf Grundlage demokratischer Aushandlungsprozesse getroffen werden.

4. Frühzeitig mit der Leseförderung beginnen:

Die Inhalte und Methoden des Projekts sollten an die teilnehmende Altersgruppe und deren Kompetenzen angepasst werden. Allerdings wäre es sinnvoll, die Altersspanne einzugrenzen, um die Inhalte des Projekts für einzelne Altersgruppen akzentuieren zu können. Generell sei eine frühzeitige Leseförderung mit digitalen Medien zu empfehlen, also bereits bei drei- bis fünfjährigen Kindern. Mit zunehmendem Alter könnten dann komplexere Formen des Medieneinsatzes und der Auseinandersetzung mit Medien erfolgen.

Als mediale Formate für eine altersgerechte Leseförderung werden benannt:

  • für 3- bis 5-Jährige (Kleinkinder und Vorschulkinder): digitale Lesestifte, Hörspiele, Bilderbuchkino, Vorleseapps
  • für 6- bis 12-Jährige (Kinder, die mit dem Lesen anfangen und erste Lesekenntnisse erwerben): Radiobeitrag, Fotostory, Trickfilm, Geocaching
  • für 13- bis 18-Jährige (Jugendliche): Actionbound, Digital Storytelling, Podcast, Comic, Film, Blog

5. Kinder und Jugendliche zu Produzentinnen und Produzenten machen:

Die Kinder und Jugendlichen sollten aktiv in die Erstellung von Inhalten und Formaten mit digitalen Medien eingebunden und bei der Produktion von Inhalten unterstützt werden. Die Nutzung der digitalen Welt und die aktive Medienproduktion erfordere Lesekompetenz, die auf diese Art aktiv zur Anwendung komme. Über das Tablet könnten auch verschiedene Formen der Mediennutzung kombiniert werden, etwa Internetrecherche, Schreiben und Fotografieren bei der Produktion einer Fotostory. Ein Höhepunkt am Projektende sei die Möglichkeit, die erarbeiteten Inhalte in einer Abschlusspräsentation der Familie, dem Freundeskreis und weiteren Interessierten vorzustellen.

6. Den außerschulischen Charakter eines Projekts nutzen:

Betont werden sollte der Freizeitcharakter des Projekts und die Freiwilligkeit der Teilnahme. Darüber könne das Interesse der Kinder und Jugendlichen für das Projekt und deren aktive Teilnahme am Projekt gesichert werden. Während sich Kinder und Jugendliche in der Schule teilweise mit Leistungserwartungen konfrontiert sehen, die sie nicht erfüllen können, könnten in einem außerschulischen Projekt der Leseförderung mit digitalen Medien auch schulisch nicht erfolgreiche Kinder und Jugendliche motivierende Erfolgserlebnisse haben. Die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen sollten dazu ermutigt werden, Texte zu schreiben, auch wenn diese Rechtschreibfehler enthalten, und in ihrer Kreativität im Projektprozess bestärkt werden.

7. Interessierte Projektmitwirkende unterstützen und qualifizieren:

Weiterbildungsangebote von Trägern oder Initiativen sollten dazu genutzt werden, um Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit und Pädagoginnen und Pädagogen dazu anzuregen, digitale Medien in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen einzusetzen. Im Rahmen solcher Qualifizierungsangebote könnten die Potenziale digitaler Medien in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aufgezeigt und Bedenken hinsichtlich möglicher Risiken der Mediennutzung sowie ein pädagogisch sinnvoller Medieneinsatz reflektiert werden. Der Austausch mit anderen und das praktische Ausprobieren unterstütze dabei, ein Selbstbewusstsein für die eigene praktische Umsetzung zu entwickeln. Die Stiftung Digitale Chancen pilotiert seit 2002 Qualifizierungen rund um die Themen der Digitalisierung.

8. Externe Partnerinnen und Partner einbinden:

Bei der Durchführung eines Projekts der Leseförderung sei es sinnvoll, die Potenziale des (beruflichen) Netzwerks zu nutzen und verschiedene Expertinnen und Experten in die Projektplanungen einzubinden, etwa Kulturschaffende aus den Bereichen Film oder Radio. Sie könnten den Kindern und Jugendlichen durch ihre Authentizität und beruflichen Praxiserfahrungen dabei helfen, einen eigenen Zugang zum Lesen und Schreiben zu finden. Auch die Unterstützung von Ehrenamtlichen sei oft hilfreich, da deren unterschiedliche Hintergründe und Erfahrungswerte dazu beitragen können, mit der Heterogenität in Gruppen und der Themenvielfalt innerhalb eines Projekts besser umzugehen. Auch die Einbindung strategischer Partnerinnen und Partner sollte angestrebt werden, etwa Unternehmen vor Ort oder die Bezirks- und Jugendämter.