Studie

MEMO I – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor

Thema

Erinnerungskultur in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus

Herausgeberschaft

Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)

Erscheinungsort

Bielefeld

Erscheinungsjahr

2018

Stiftungsengagement

Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)

Literaturangabe

Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) (Hrsg.): MEMO I – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor. Ergebnisbericht. Bielefeld 2018.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Der Multidimensionale Erinnerungsmonitor (MEMO) soll Aufschluss darüber geben, was, wie und wozu Bürgerinnen und Bürger in Deutschland historisch erinnern. Ziel ist eine empirische Dokumentation der in Deutschland vorherrschenden Erinnerungskultur, erfasst in Form einer repräsentativen Meinungsumfrage im Bevölkerungsquerschnitt. Ein Fokus liegt dabei auf der Erinnerung an die Shoah und die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen und Menschengruppen in der Zeit des Nationalsozialismus. Mit dem MEMO soll deutlich werden, was für die Bürgerinnen und Bürger historisch bedeutsam ist und welche Einstellung sie selbst zur Erinnerungskultur haben.

Im August 2017 wurde in einem Workshop mit Expertinnen und Experten eine Arbeitsdefinition für das Konzept der Erinnerungskultur erarbeitet, die vor allem durch die zentralen Dimensionen „was“ (Inhalte bzw. Ereignisse, Familiennarrative) und „wie“ (insbesondere Orte des Erinnerns) markiert wird.

Die vorliegende Publikation gibt einen Überblick über das Design der Studie, die Daten sowie wesentliche Befunde. Die vollständige deskriptive Auswertung der Daten ist in einem separaten Dokument veröffentlicht (MEMO I – Datenbericht).

Verantwortlich für den Inhalt der Studie ist das Institut für interdisziplinäre Institut für Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld (Studienleitung: Prof. Dr. Andreas Zick und Dr. Jonas Rees). Im Auftrag des IKG hat das Sozialwissenschaftliche Umfragezentrum Duisburg (SUZ) im Zeitraum von Dezember 2017 bis Februar 2018 eine Telefonumfrage (CATI) durchgeführt, die als eine für Deutschland repräsentative Stichprobe gelten kann. Befragt wurden 1.016 zufällig und repräsentativ ausgewählte Bürgerinnen und Bürger aus allen Bundesländern im Alter zwischen 16 und 92 Jahren (etwa die Hälfte Frauen und Männer, knapp 15 Prozent mit Migrationshintergrund). Die Befragten beantworteten in der standardisiert durchgeführten telefonischen Umfrage sowohl Fragen im offenen Format ohne Angabe von Antwortoptionen als auch in geschlossenen Formaten, bei denen Aussagen vorgegeben wurden und die Befragten auf Ratingskalen den Grad ihrer Zustimmung oder Ablehnung nennen konnten („überhaupt nicht wichtig, eher nicht wichtig, teils/teils, eher wichtig, sehr wichtig“). Die Teilnahme erfolgte freiwillig und anonym. Die teilnehmenden hatten immer auch die Möglichkeit, Fragen nicht zu beantworten. MEMO ist so angelegt, dass die Studie wiederholt und zu einer Langzeitbeobachtung werden kann.

Gefördert wurde die Studie durch die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ).

Wichtige Ergebnisse

Ergebnisse der Befragung

Großes Interesse an deutscher Geschichte

  • Die Befragten berichten tendenziell ein eher starkes oder sehr starkes Interesse an der deutschen Geschichte. In allen Altersgruppen liegt die durchschnittliche Antwort im zustimmenden Bereich (zwischen „teils/teils“ und „eher stark“).
  • Die höchste Zustimmung wird von den 61- bis 75-Jährigen und den ab 76-Jährigen geäußert, die niedrigste Zustimmung von den 16- bis 30-Jährigen. Das Alter der Befragten und ihr Interesse an der deutschen Geschichte hängen insgesamt schwach, aber signifikant zusammen.
  • Gefragt nach der persönlichen Bedeutung der deutschen Geschichte („Wenn Sie an die deutsche Geschichte denken, wie fühlen Sie sich dann ...?) berichten alle Befragten eher Gleichgültigkeit mit einem leicht positiven Trend.
  • Ein deutlicheres Bild ergibt sich hinsichtlich der Frage, welche Rolle die Schule als Ort der Erinnerungskultur hat: je jünger die Befragten, desto häufiger geben sie an, in der Schule viel über die Zeit des Nationalsozialismus gelernt zu haben.

Wichtiger Stellenwert des Geschichtsunterrichts

  • Über alle Alterskategorien hinweg finden Befragte es sehr wichtig (79,2 Prozent) oder eher wichtig (15,6 Prozent), dass Schülerinnen und Schüler in der Schule Geschichtsunterricht erhalten. Befragte mit höherer Bildung finden Geschichtsunterricht tendenziell etwas wichtiger als solche mit geringerer Bildung.
  • In Bezug auf die Unterrichtsinhalte im Fach Geschichte zeigt sich (bei vorgegebenen Antwortoptionen), dass zwei Themen durchschnittlich am wichtigsten eingestuft werden: „die Vernichtung von Menschen in Konzentrationslagern“ (82,2 Prozent) und „Verhindern, dass der Nationalsozialismus zurückkommt“ (84,3 Prozent). Als wichtig werden z.B. auch die Themen „Die deutsche Wiedervereinigung“ (69,8 Prozent), „Lernen, welchen Schaden Rassismus anrichten kann“ (78,9 Prozent) und die „Vermittlung von Werten“ (76 Prozent) eingestuft.
  • Das Thema „Die deutsche Wiedervereinigung“ wird von den ältesten Befragten im Vergleich zu allen anderen Alterskategorien als deutlich wichtiger eingestuft. Bei allen anderen Themen besteht über Alterskategorien hinweg Einigkeit hinsichtlich der Wichtigkeit. Der größte Unterschied ist, dass jüngere Befragte die Vermittlung von Werten weniger wichtig einstufen als ältere Befragte.

Deutsche Wiedervereinigung als wichtigstes Ereignis seit 1900

  • Auf die offene Frage, was ihrer Meinung nach das wichtigste Ereignis in Deutschland seit 1900 ist, nennen 39,2 Prozent der Befragten die Wiedervereinigung. An zweiter Stelle folgt mit 36,8 Prozent der Zweite Weltkrieg. Diese Frage wurde bei offener Nennung nachcodiert, d.h. explizite Nennungen (z.B. „Zweiter Weltkrieg“) wurden ebenso in die Kategorie eingeordnet wie eindeutige Schlagworte (z.B. „Nationalsozialismus“, „Judenverfolgung“) oder Ereignisse (z.B. „Machtergreifung“, „Ende Zweiter Weltkrieg“). Dadurch ergibt sich eine sehr viel breitere Kategorie „Zweiter Weltkrieg“ als „Wiedervereinigung“.
  • Befragte, die den Zweiten Weltkrieg als wichtigstes Ereignis nennen, bewerten diesen – im Vergleich zu Befragten mit anderen Prioritäten – tendenziell negativer und sie denken weniger gern daran. Zudem unterscheiden sie sich in ihrem sozio-demografischen Hintergrund von jenen, die die Wiedervereinigung als wichtigstes Ereignis nennen: Sie sind im Durchschnitt älter, gebildeter, eher männlichen Geschlechts und eher im Westen Deutschlands aufgewachsen.

Orte der Erinnerung an den Nationalsozialismus

  • Mit der Frage „Wo waren Sie bisher mit dem Thema Nationalsozialismus konfrontiert und wie stark hat das Ihre Meinung zur deutschen Geschichte geprägt?“ wurde eine Reihe von Orten der Erinnerung und Konfrontation mit dem Thema erfragt. Dabei ist festzustellen, dass Dokumentar-, Kino- und Fernsehfilme sowie Gedenkstättenbesuche als die am prägendsten erlebten Orte der Erinnerung eingeschätzt werden. Jeweils etwa ein Drittel der Befragten gibt an, dass diese Quellen ihre Meinung zur deutschen Geschichte sehr stark geprägt haben.

Gedenkstätten und Mahnmale als bedeutsame Orte der Erinnerung

  • Auch wurde die ausdrückliche Frage gestellt, wie oft Befragte Gedenkstätten und Mahnmale bereits besucht haben, und ob ein entsprechender Besuch diese Person anschließend noch lange beschäftigt hat.
  • Insgesamt gibt ein beachtlicher Anteil Befragter an, Orte der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus aufgesucht zu haben. Lediglich 13,5 Prozent haben demnach Gedenkstätten oder Mahnmale noch nie besucht. Diese Gruppe ist durchschnittlich älter, häufiger weiblichen Geschlechts und weniger gebildet als Menschen, die mindestens einmal einen solchen Ort aufgesucht haben. Sie sind außerdem häufiger im Westen Deutschlands aufgewachsen (über 90 Prozent).

Familiennarrative: keine eindeutige Täter-Opfer-Perspektive

  • Besonders wichtige Inhalte der Erinnerungskultur sind Erzählungen und Berichte, die in Familien vermittelt und tradiert werden, insbesondere über die Rollen der eigenen Vorfahren während des Zweiten Weltkriegs. Um diese Narrative abzubilden, wurde nach Täter-, Opfer- und Helferschaft gefragt, ohne diese Begriffe – bewusst – genauer zu definieren. Bei den Antworten konnten die Antwortkategorien „weiß nicht“ oder „keine Angabe“ gewählt werden.
  • Ungefähr die Hälfte der Befragten berichtet von Opfern unter ihren Vorfahren während des Zweiten Weltkriegs. Von Täter- oder Helferschaft innerhalb ihrer Familie berichten anteilig etwa gleich viele Befragte. 11,8 Prozent der Befragten bejahen sowohl die Frage nach Täter- als auch die nach Opferschaft unter den Vorfahren. Etwas höher fällt die Überlappung bei den Fragen nach Opfer- und Helferschaft aus: 12,8 Prozent bejahen hier beide Fragen. Am geringsten ist die Überschneidung von Täter- und Helferschaft (3,9 Prozent).
  • Es finden sich systematische demografische Unterschiede zwischen Befragten in Abhängigkeit von den berichteten Täternarrativen: Teilnehmende, die die Frage nach Täterschaft unter den Vorfahren bejahen, sind jünger, häufiger männlich und tendenziell höher gebildet als solche, die die Frage verneinen. Mit Blick auf die Familiennarrative von Opfer- und Helferschaft finden sich keine solchen Unterschiede.
  • Die Antwortkategorie „weiß nicht“ wird über alle drei Formen der Familiennarrative am häufigsten von den jüngeren Befragten verwendet. Im Vergleich haben Befragte, die auf eine der drei Fragen mit „ja“ antworten, jeweils schon häufiger Gedenkstätten und Mahnmale besucht als Befragte, die mit „nein“ antworten. Befragte, die angeben, unter ihren Vorfahren seien Opfer gewesen, finden es außerdem Geschichtsunterricht für Schülerinnen und Schüler wichtiger. Alle Befragten geben unabhängig von den berichteten Familiennarrativen auf ähnlich hohem Niveau Interesse für die deutsche Geschichte an.

Keine signifikanten Unterschiede bei Personen mit Migrationsgeschichte

  • Die Befragung sollte auch Erkenntnisse über die Rolle des Migrationshintergrunds bei der Einschätzung der deutschen Geschichte und Erinnerungskultur bringen, z.B. aufgrund von weniger Kontakt zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Dazu wurde gefragt, ob Befragte „von sich selbst sagen würden, dass Sie einen Migrationshintergrund haben, also Sie selbst oder Ihre Eltern nicht in Deutschland geboren sind“. Insgesamt 14,9 Prozent der Befragten bejahten diese Frage. Dabei sind die „Migrationshintergründe“ vielfältig (z.B. türkische, russische, inner- und außereuropäisch), die Befragte mit Migrationshintergrund durchschnittlich jünger und leben häufiger im Westen Deutschlands.

Die Analysen ergaben deutlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Das Vorliegen einer Migrationsgeschichte hat kaum Einfluss auf die berichtete Erinnerungskultur: So schätzen Befragte mit Migrationshintergrund ihr Interesse an der deutschen Geschichte ähnlich hoch ein, fühlen sich ähnlich, wenn sie an die deutsche Geschichte denken und berichten, in der Schule ähnlich viel über den Nationalsozialismus gelernt zu haben wie Befragte ohne Migrationshintergrund. Ein Unterschied zeigt sich nur darin, dass Geschichtsunterricht etwas weniger wichtig eingeschätzt wird. Die Inhalte bzw. Ziele dieses Geschichtsunterrichts werden aber wieder weitgehend ähnlich eingeschätzt. Auch beim Besuch und der Einschätzung von Orten der Erinnerung finden sich deutlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Ebenso sind die Familiennarrative von Täter-, Opfer- und Helferschaft unter Befragten mit und ohne Migrationshintergrund ähnlich häufig.