Studie

MEMO. Multidimensionaler Erinnerungsmonitor

Thema

Zustand und Entwicklung der Erinnerungskultur in Deutschland

Erscheinungsort

Bielefeld

Erscheinungsjahr

2021

Stiftungsengagement

Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“

Literaturangabe

MEMO. Multidimensionaler Erinnerungsmonitor, Studie IV 2021, Bielefeld 2021.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Der „Multidimensionale Erinnerungsmonitor“ (MEMO) beobachtet anhand repräsentativer Umfragen den Zustand und die Entwicklungen der Erinnerungskultur in Deutschland. Untersucht wird die gesellschaftliche Erinnerung an historische Ereignisse, insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus. Ermittelt werden auch Faktoren, die gesellschaftliches Erinnern prägen oder verzerren können.  MEMO erscheint seit 2017 jährlich. Die vorliegende Publikation ist 2021 in vierter Auflage erschienen und erlaubt somit nicht nur eine empirische Dokumentation der Erinnerungskultur in Deutschland in gegenwärtiger Bestandsaufnahme, sondern auch Vergleiche mit den Ergebnissen der vorherigen Jahre.

Durch die Befragung jeweils repräsentativer Stichproben von Bundesbürger*innen wird unter anderem ermittelt,

  • welche Ereignisse Menschen in Deutschland als historisch bedeutsam empfinden,
  • welche Einstellungen die Befragten selbst zur Erinnerungskultur in Deutschland haben,
  • ob und wie diese Einstellungen sich wandeln,
  • welche Rolle verschiedene Wege der Auseinandersetzung mit der Geschichte spielen und
  • welche Konsequenzen sich aus dieser Auseinandersetzung ergeben.

Der Fokus der MEMO-Studien liegt auf der Erinnerung an die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen und Menschengruppen während der Zeit des Nationalsozialismus.

2017 haben Expert*innen aus dem Themenfeld gemeinsam die Basis für das Konzept der Erinnerungskultur erarbeitet, das seitdem mit wenigen Modifikationen die Grundlage der MEMO-Studien bildet. Zur kritischen Reflexion werden immer wieder Expert*innen der erinnerungskulturellen Forschung und Praxis einbezogen, inzwischen haben über 70 Expert*innen an den Studien mitgewirkt. Die MEMO-Studien sollen in Form repräsentativer Befragungen abbilden, welche Arten des Umgangs mit Geschichte, welche Einstellungen zu diesem Umgang und welche Erwartungen oder Wünsche an einen zukünftigen Umgang mit der deutschen Geschichte unter den Befragten vorzufinden sind.

Die vorliegende Studie MEMO IV wurde im Dezember 2020 und Januar 2021 durchgeführt. Ziel war es, einzelne Themenschwerpunkte in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus aufzugreifen, die in den vorherigen Befragungen nicht oder nur am Rande untersucht wurden, zum Beispiel:

  • Wie stehen die Befragten zu neuen, digitalen Wegen der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit?
  • Wie differenziert erinnern sie die Opfergruppen des Nationalsozialismus, welche Opfergruppen geraten in Vergessenheit?
  • Was wissen sie über die Zwangsarbeit und die Involvierung deutscher Unternehmen während der NS-Zeit?
  • Welche Ereignisse und Entwicklungen seit 1945 bringen Befragten mit dem Nationalsozialismus in Verbindung?
  • Wie beurteilen sie die Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen in unserer heutigen Gesellschaft?
  • In welchem Zusammenhang stehen der Glaube an Verschwörungserzählungen und die Relativierung und Leugnung historischer Fakten?

Verantwortlich für den Inhalt und die Auswertung der Studie ist das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Das Forschungsteam bestand aus Michael Papendick, Dr. Jonas Rees, Maren Scholz und Prof. Dr. Andreas Zick. Im Auftrag des IKG führte das Umfrageinstitut Ipsos im Zeitraum von Dezember 2020 bis Januar 2021 eine Telefonumfrage (CATI) durch, an der 1.000 zufällig ausgewählte Personen aus allen Bundesländern teilnahmen. Diese beantworteten in der standardisiert durchgeführten telefonischen Umfrage sowohl Fragen in offenem Format ohne Angabe von Antwortoptionen als auch geschlossene Fragen mit vorgegebenen Antworten, bei denen die Befragten auf Ratingskalen den Grad ihrer Zustimmung oder Ablehnung angeben konnten („lehne stark ab, lehne eher ab, teils/teils, stimme eher zu, stimme stark zu“). Die Teilnahme an der Umfrage war freiwillig und anonym. Es gab stets die Möglichkeit, Fragen nicht zu beantworten oder die Teilnahme an der Befragung zu beenden. MEMO ist so konzipiert, dass die Studien vollständig oder in Auszügen wiederholt und so zu einer Langzeitbeobachtung ausgebaut werden können.

Gefördert wurde die Studie von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.

Wichtige Ergebnisse

Ausgewählte Befunde der Befragung

1. Erinnerung an die NS-Zeit

  • Fast die Hälfte der Teilnehmer*innen (46,6 Prozent) gibt an, „eher viel“ oder „sehr viel“ über den Nationalsozialismus in der Schule gelernt zu haben (32,7 Prozent sind der Meinung, in der Schule „eher wenig“ oder „überhaupt nichts“ darüber gelernt zu haben). Systematische Unterschiede in den Antworten auf diese Frage zeigen sich in Bezug auf das Alter und den formalen Bildungshintergrund: In der Schule weniger über die NS-Geschichte gelernt zu haben, berichten sowohl ältere Befragte als auch Befragte mit formal niedrigeren Bildungsabschlüssen.
  • 50,1 Prozent der Befragten meinen, sich mit dem Thema NS-Zeit „eher viel“ oder „sehr viel“ in Eigeninitiative befasst zu haben. 22,9 Prozent sagen, dass sie sich „überhaupt nicht“ oder „eher wenig“ intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben. Eine systematisch intensivere Auseinandersetzung berichten dabei sowohl ältere Befragten als auch solche mit einem formal höheren Bildungsabschluss.
  • Ihr eigenes Wissen über die NS-Zeit schätzen die Teilnehmer*innen der Studie tendenziell als gut ein: 59,9 Prozent geben an, „eher viel“ oder „sehr viel“ über die NS-Zeit zu wissen, 13 Prozent schätzen ihr Wissen als „überhaupt nicht“ oder „eher nicht“ gut ein. Diejenigen, die ihr eigenes Wissen als besser einschätzen, haben sich nach eigener Aussage auch intensiver auf verschiedenen Wegen mit der NS-Zeit befasst.
  • Besonders häufig berichten Befragte, vergleichsweise leicht zugängliche Wege zur Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus genutzt zu haben. Sie haben zum Beispiel Spiel- oder Dokumentarfilme geschaut (93,5 Prozent mindestens einmal; 73,3 Prozent viermal oder häufiger) oder mit Familienangehörigen über das Thema gesprochen (85,9 Prozent mindestens einmal; 71,1 Prozent viermal oder häufiger). Ein großer Teil der Befragten (79,8 Prozent) sagt, schon mindestens einmal eine Gedenkstätte besucht zu haben (54,4 Prozent zweimal oder häufiger). An einer Veranstaltung mit Zeitzeug*innen hat rund ein Drittel der Befragten (35 Prozent) nach eigener Aussage mindestens „einmal“ teilgenommen, rund zwei Drittel (65 Prozent) geben an, eine solche Veranstaltung „noch nie“ besucht zu haben. Jüngere und ältere Teilnehmer*innen haben sich insgesamt ähnlich intensiv mit dem NS beschäftigt. Altersunterschiede zeigen sich jedoch im Hinblick auf die konkreten Zugänge: Während jüngere Befragte angeben, sich deutlich häufiger im Internet mit dem NS-Thema beschäftigt zu haben, berichten ältere häufiger, Sachbücher und Romane gelesen, Spiel- oder Dokumentarfilme geschaut und schon einmal eine Veranstaltung mit Zeitzeug*innen besucht zu haben. Befragte mit niedrigerer formaler Bildung geben für alle Zugänge an, sie bisher weniger häufig genutzt zu haben, um sich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen.
  • Die Wissenschaftler*innen weisen darauf hin, dass Unterschiede in Abhängigkeit von den formalen Bildungsabschlüssen keinen Rückschluss darauf geben können, dass Befragte mit formal niedrigeren Bildungsabschlüssen ein grundlegend geringeres Interesse am Thema hätten. Bei Unterschieden in Bezug auf den Bildungsgrad würden sich immer auch Faktoren wie unterschiedliche finanzielle Ressourcen und andere Aspekte von Bildungs- und sozialer Ungleichheit abbilden, was bei der Interpretation einzubeziehen sei.
  • Rund die Hälfte aller Befragten (51,2 Prozent) gibt an, dass es in ihrem eigenen Wohnort Orte oder Angebote gibt, um sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen. Befragte, die sich in der Vergangenheit intensiver mit dem Thema auseinandergesetzt haben, kennen diese lokalen Zugänge häufiger. Befragte, die in Orten mit weniger Einwohner*innen leben, berichten systematisch seltener, von öffentlichen Angeboten zu wissen, als Befragte, die in Großstädten leben. Ein Großteil der Befragten (70,4 Prozent), die von Angeboten in ihrem Wohnort wissen, haben dieses Angebot nach eigenen Angaben auch schon mindestens einmal genutzt.
  • Viele Zugänge zum Thema Nationalsozialismus scheinen gesellschaftlich etabliert (zum Beispiel Bücher, Filme und der Besuch von Gedenkstätten). Bei neuen Wegen zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die auch digitale Möglichkeiten einbeziehen, stößt ein „Gespräch“ mit sogenannten digitalen Zeitzeug*innen auf großes Interesse: 40,2 Prozent der Befragten geben an, dass sie sich „eher gern“ oder „sehr gern“ auf diese Weise mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen würden. Je rund ein Viertel der Befragten zeigt sich interessiert, sich über einen Podcast-Beitrag (27,1 Prozent) oder eine virtuelle Besichtigung einer KZ-Gedenkstätte (26,3 Prozent) mit dem Nationalsozialismus zu befassen. Deutlich wird aber auch ein vergleichsweise hoher Anteil von Befragten, die diese neuen Zugänge „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ gern nutzen würden. Hier zeigt sich eine geringere Offenheit bei älteren Befragten.
  • Jeweils zwei Drittel der Befragten sagen, dass ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus „eher viel“ oder „sehr viel“ dazu beigetragen hat, dass sie Faktenwissen über die NS-Zeit gelernt haben (66,5 Prozent) und dass sie die Entstehung des Nationalsozialismus verstanden haben (66,2 Prozent).
  • Je zwei Drittel der Befragten geben an, durch die eigene Auseinandersetzung sensibler auf Diskriminierung und Ausgrenzung zu reagieren (64,1 Prozent) und sich nun der eigenen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu sein (66,5 Prozent).

2. Familienbiografien als Bezugspunkt zur Zeit des Nationalsozialismus

  • Von den 1.000 Befragten in der aktuellen Studie geben 16,4 Prozent an, dass keine ihrer Vorfahren während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gelebt haben. Rund die Hälfte dieser 164 Befragten (48,3 Prozent) gibt an, dass das Leben ihrer Vorfahren „eher wenig“ oder „überhaupt nicht“ von der NS-Zeit beeinflusst wurde.
  • Etwas mehr als ein Drittel (36,4 Prozent) berichtet, das Leben der eigenen Vorfahren sei „eher stark“ oder „sehr stark“ von der Zeit des Nationalsozialismus beeinflusst worden.

3. Erinnerung an die Opfergruppen des Nationalsozialismus

  • Die Teilnehmer*innen sollten in der Befragung – ohne vorgegebene Antwortmöglichkeiten – Opfergruppen des Nationalsozialismus nennen. Dabei zeigt sich: Im Durchschnitt kennen die Teilnehmer*innen zwei bis drei Opfergruppen des Nationalsozialismus, einige keine, andere bis zu sieben Gruppen, die ihres Wissens von den Nationalsozialist*innen verfolgt und ermordet wurden. Befragte, die angeben, sich intensiver mit dem NS auseinandergesetzt zu haben, können mehr Opfergruppen benennen.
  • Mit 82,1 Prozent ist die Opfergruppe der Jüd*innen die am häufigsten genannte. Weniger als die Hälfte der Befragten nennt die Gruppe der Sinti*zze und/oder Rom*nja (44,5 Prozent). Je rund ein Viertel nennt die Gruppen der Homosexuellen (28,8 Prozent), der politisch Verfolgten (z.B. „Kommunisten“, „Sozialdemokraten“) (27,8 Prozent) und der Kranken und Menschen mit Behinderungen (23,1 Prozent). 10,9 Prozent machen hier keine Angabe. Zur Kategorie „Unspezifische und Einzelnennungen“ (7 Prozent) wurden eine Vielzahl von Gruppen genannt wie zum Beispiel „Ausländer“, „Andersgläubige“, „Andersdenkende“ oder „Zivilisten“.
  • Knapp die Hälfte der Befragten (47,5 Prozent) stimmt der Aussage zu, dass in der gesellschaftlichen Erinnerung zu wenig thematisiert wird, wie vielfältig die Gruppen waren, die von den Nationalsozialisten systematisch verfolgt und ermordet wurden.
  • Ein Drittel aller Befragten (33,7 Prozent) ist der Ansicht, dass die Perspektiven der Opfergruppen bereits in der gesellschaftlichen Erinnerung ausreichend vertreten sind, rund ein Viertel (28,2 Prozent) ist nicht dieser Auffassung.

4. Wissen über die Zwangsarbeit in der Zeit des Nationalsozialismus

  • Im Durchschnitt schätzen die Teilnehmer*innen, dass etwa vier Millionen Menschen während der gesamten Zeit des Nationalsozialismus zur Arbeit für das NS-Regime gezwungen wurden. Dabei zeigt sich, dass jüngere Befragte und Befragte, die sich intensiver mit der NS-Zeit auseinandergesetzt haben, das Ausmaß der Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Deutschland als größer einschätzen.

5. Rolle und Involviertheit der deutschen Gesellschaft in der NS-Zeit

  • Die Befragten schätzen im Durchschnitt, dass rund die Hälfte aller Deutschen (54,1 Prozent) von den systematischen Morden des NS-Regimes wusste, dass sich also im Umkehrschluss 45,9 Prozent der Deutschen dieser Verbrechen nicht bewusst waren.
  • Rund ein Viertel aller Befragten (25,2 Prozent) gibt an, Verständnis dafür zu haben, wenn Deutsche in der NS-Zeit „nichts von den Verbrechen des Nazi-Regimes wissen wollten“.
  • Etwa ein Fünftel  (19,6 Prozent) ist der Ansicht, dass die deutsche Bevölkerung keine Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes trug. Fast ebenso viele (17,8 Prozent) sind der Meinung, dass die deutsche Bevölkerung während der NS-Zeit „genauso sehr gelitten hat wie die Gruppen, die durch das NS-Regime verfolgt wurden“.
  • Über alle Fragen hinweg zeigt sich, dass diejenigen, die entlastenden Aussagen über die deutsche Bevölkerung während der NS-Zeit stärker zustimmen, im Durchschnitt älter sind, dass sie sich weniger intensiv mit der NS-Zeit auseinandergesetzt haben und dass sie eindeutig geschichtsrevisionistischen Aussagen stärker zustimmen (z.B. „Ich bezweifle, dass alles stimmt, was über das Ausmaß der Judenverfolgung berichtet wird“).
  • Die Ansicht, dass der Großteil der Deutschen das nationalsozialistische Regime bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs aktiv unterstützt hat, teilen 42,7 Prozent aller Befragten.
  • Bei der offenen Frage (ohne vorgegebene Antworten), welche deutsche Unternehmen in die Verbrechen des Nationalsozialismus involviert waren, wollte oder konnte rund ein Drittel aller Befragten (37 Prozent) kein Unternehmen benennen. Diese Teilnehmer*innen waren im Durchschnitt jünger und hatten sich bisher weniger intensiv mit der NS-Zeit auseinandergesetzt. Von den übrigen Befragten gibt der größte Teil (30,7 Prozent) das Unternehmen Krupp an (alternativ als „Krupp Stahl“ oder „ThyssenKrupp“ bezeichnet). 14,4 Prozent der Befragten nennen explizit die IG Farben oder aber konkrete Unternehmen wie BASF, Bayer oder Hoechst, die Teil der IG Farben waren. 8,3 Prozent der Befragten nennen Volkswagen, 4,8 Prozent Siemens, andere Unternehmen werden noch seltener benannt.

6. Nationalsozialismus seit 1945

  • Um herauszufinden, ob die Befragten die Zeit von 1933 bis 1945 als „abgeschlossenes Kapitel“ der deutschen Geschichte betrachten und inwiefern sie nationalsozialistisches und menschenfeindliches Gedankengut bis heute als Teil der deutschen Gesellschaft bewerten, wurden sie gefragt, ob sie ein Ereignis in der deutschen Geschichte seit 1945 benennen können, das aus ihrer Sicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus steht. Diese offene Frage wollte oder konnte ein großer Teil der 1.000 Befragten (46,1 Prozent) nicht beantworten. Die meisten (24,1 Prozent) beantworten die Frage mit der Benennung von Angriffen und Anschlägen, wobei 20 Prozent rechtsextrem motivierte Terroranschläge anführen und sich dabei am häufigsten auf den Nationalsozialistischen Untergrund beziehen (z.B. „die NSU Morde“), gefolgt von den Terroranschlägen von Halle und Hanau. Weitere spezifische Nennungen sind beispielsweise „die Ermordung von Walter Lübcke“, „das Oktoberfest-Attentat 1980“ sowie „die Anschläge in Hoyerswerda“. Ein Teil der Befragten (4,1 Prozent) nennt nicht eindeutig zu verortende Angriffe und Anschläge, wobei in den meisten Fällen naheliegend ist, dass diese Befragten sich ebenfalls auf rechtsextrem motivierte Taten beziehen (z.B. „die Anschläge auf Juden“, „Angriffe auf Flüchtlinge“, „Brandstiftung in Asylantenheimen“). Etwa ein Zehntel (9,7 Prozent) bezieht sich in der Antwort auf die Frage nach einem Ereignis mit Bezug zur deutschen NS-Vergangenheit auf rechte und rechtsextreme gesellschaftspolitische Entwicklungen und benennt entsprechende Gruppierungen („die Neonazis“, „die Leute von Pegida“, „Rechtsradikale“, „die Geschichte der Reichsbürger“). Viele Befragte beziehen sich ausdrücklich auf politische Parteien wie die NPD und die AfD.
  • Insgesamt 5 Prozent der Befragten benennt verschiedene gesellschaftspolitische Entwicklungen und Ereignisse ohne politisch rechten Bezug. Genannt wird dabei am häufigsten die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands, aber auch „das Grundgesetz“, „die deutsche Verfassung“ oder „der kalte Krieg“. Unter Ereignisse aus dem Kontext des Gedenkens an den Nationalsozialismus (4,6 Prozent) fallen Nennungen von Gedenkstätten und -tagen, insbesondere aber der Kniefall von Willy Brandt in Warschau. Unter die Ereignisse aus dem Kontext der Aufarbeitung des Nationalsozialismus (4,2 Prozent) fallen insbesondere Nennungen der Nürnberger Prozesse. 1,6 Prozent der Antworten beziehen sich nicht auf spezifische Ereignisse, sondern auf Formen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der heutigen Gesellschaft (z.B. „Rassismus“, „Antisemitismus“), die aus Sicht der Befragten in einem Zusammenhang mit der NS-Zeit stehen.
  • Ausdrücklich danach gefragt, ob nationalsozialistisches Gedankengut bis heute fester Bestandteil der sogenannten Mitte der deutschen Gesellschaft sei, verneinen 41 Prozent der Befragten, während ein Drittel (33 Prozent) zustimmt. Diejenigen, die diese Aussage ablehnen, haben sich im Durchschnitt weniger intensiv mit der NS-Zeit auseinandergesetzt. Bei der Frage, ob die deutsche Gesellschaft heute weniger empfänglich für rechte Ideologien sei als zur Zeit des Nationalsozialismus, zeigt sich ein geteiltes Bild – 34,5 Prozent lehnen die Aussage ab, 35 Prozent stimmen ihr zu.

 

7. Schutzmechanismen und Diskriminierung in der heutigen Gesellschaft

  • Die Teilnehmer*innen wurden gefragt, welche Aspekte aus ihrer Sicht die deutsche Gesellschaft davor schützen, dass sich so etwas wie die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland wieder ereignen kann. Das größte Vertrauen berichten die Befragten in die „demokratischen Institutionen“ (48,9 Prozent). Ein etwas geringerer Anteil von 42,1 Prozent der Befragten vertraut darauf, dass „wir als Gesellschaft sensibler für Ausgrenzung und Diskriminierung“ geworden sind. Rund ein Drittel der Befragten (34,8 Prozent) vertraut darauf, dass „unsere bisherige Auseinandersetzung mit der NS-Zeit“ uns schützt, wobei ein geringeres Vertrauen hier insbesondere bei denjenigen Befragten deutlich wird, die sich selbst bisher vergleichsweise wenig mit der NS-Zeit auseinandergesetzt haben.
  • Für zwei der genannten Schutzmechanismen zeigen sich systematische Zusammenhänge mit dem Alter der Teilnehmer*innen: Im Vergleich zu älteren zeigen jüngere Befragte ein größeres Vertrauen in die demokratischen Institutionen und darin, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit uns als Gesellschaft davor schützt, dass etwas Vergleichbares sich wiederholen kann.
  • Das gegenwärtige Ausmaß an Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen oder Menschengruppen in Deutschland empfindet etwa die Hälfte der Befragten (52,1 Prozent) als besorgniserregend. Mehr als die Hälfte (58 Prozent) gibt an, sich selbst mitverantwortlich zu fühlen, aktiv gegen die Diskriminierung und Ausgrenzung anderer Menschen einzutreten. Mehr als ein Drittel (38,8 Prozent) berichtet, sich bereits aktiv gegen Diskriminierung und Ausgrenzung zu engagieren. Diejenigen, die angeben, diskriminierungssensibel und zivilcouragiert zu sein, haben sich intensiver mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Sie neigen außerdem stärker dazu, der deutschen Bevölkerung in der NS-Zeit eine Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu geben.
  • Auf die Frage, ob und inwiefern diejenigen Gruppen von Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland verfolgt wurden, auch in unserer heutigen Gesellschaft diskriminiert und ausgegrenzt werden, antworten 6,5 Prozent der Befragten, dass diese Gruppen „gar nicht mehr“ diskriminiert werden. Knapp die Hälfte der Befragten (49,2 Prozent) ist der Ansicht, es gebe „viel weniger“ an Diskriminierung und Ausgrenzung dieser Gruppen als in der NS-Zeit, 39 Prozent nehmen „etwas weniger“ Diskriminierung und Ausgrenzung wahr. 5,2 Prozent aller Befragten sagen, dass die Gruppen, die in der NS-Zeit verfolgt wurden, in unserer heutigen Gesellschaft nicht weniger diskriminiert und ausgegrenzt werden.

8. Verschwörungsglaube und Geschichtsrevisionismus

  • Angesichts der geschichtsrevisionistischen Vorfälle im Kontext der sogenannten Corona-Demonstrationen im Jahr 2020, der Instrumentalisierung nationalsozialistischer Symbole und der Verhöhnung des Leids der Opfer des Nationalsozialismus wurde den Teilnehmer*innen auch eine explizite Frage mit Bezug zu diesen Ereignissen gestellt. Die Aussage, dass es berechtigt sei, das Leiden der deutschen Bevölkerung während der Corona-Pandemie mit dem Leid von Menschen während der NS-Zeit zu vergleichen, wird von 75,2 Prozent der Befragten „stark“, von 14 Prozent „eher“ abgelehnt – 3,9 Prozent aller Befragten stimmen der Aussage zu, weitere 6,1 Prozent lehnen sie zumindest nicht ausdrücklich ab.
  • Während die Haltung der allermeisten Befragten gegenüber dieser revisionistischen Aussage eindeutig ausfällt, stellt sich die Frage, ob und inwiefern Menschen, die stärker an Verschwörungserzählungen glauben, etwa solchen im Kontext der Corona-Pandemie, auch stärker dazu neigen, historische Fakten zu relativieren, die Geschichte in Frage zu stellen oder umzudeuten. Für eine Annäherung an diese Frage wurden diejenigen Teilnehmer*innen miteinander verglichen, die sich in der Studie zustimmend bzw. ablehnend gegenüber Verschwörungserzählungen verhielten. Von den 1.000 Befragten stimmten 29,2 Prozent der Aussage „eher“ oder „stark“ zu, dass es „geheime Organisationen“ gebe, die einen „großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben“. Außerdem stimmten 22,2 Prozent der Aussage „eher“ oder „stark“ zu, dass Politiker*innen und Führungspersonen „nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“ seien.
  • Befragte, die Verschwörungserzählungen stärker zustimmen, haben sich tendenziell weniger intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Sie schreiben der deutschen Bevölkerung während der NS-Zeit weniger Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu und setzen mit größerer Wahrscheinlichkeit das Leid dieser deutschen Bevölkerung mit dem Leid der vom NS-Regime verfolgten Gruppen gleich. Zudem stellen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit in Frage, dass das, „was über das Ausmaß der Judenverfolgung berichtet wird“, korrekt ist.
  • In Bezug auf aktuelle gesellschaftspolitische Einstellungen zeigen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch systematische Unterschiede zwischen den Gruppen: Befragte, die Verschwörungserzählungen stärker zustimmen, geben an, sich subjektiv genauso verantwortlich dafür zu fühlen, die Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen oder Menschengruppen in Deutschland zu verhindern. Gleichzeitig zeigen sie sich als feindseliger gegenüber geflüchteten Menschen eingestellt und sprechen sich beispielsweise stärker für eine Obergrenze für die Aufnahme Geflüchteter in Deutschland aus als diejenigen, die nicht an Verschwörungserzählungen glauben.

Fazit der Autorinnen und Autoren

Die vorliegenden Ergebnisse der vierten MEMO-Studie liefern nach Ansicht der Autor*innen neue Einsichten in den Zustand der deutschen Erinnerungskultur sowie über die in der Bevölkerung vorherrschenden Ansichten und das vorhandene Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus. Die Ergebnisse könnten zugleich einen Eindruck davon geben, wie Befragte unsere heutige Gesellschaft bewerten und inwiefern aus ihrer Sicht nationalsozialistisches Gedankengut und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bis heute fortbestehen.

Dabei würden die Ergebnisse selbst unmittelbar neue Fragen aufwerfen und Handlungsbedarf aufzeigen, unter anderem:

  • Es gebe Hinweise, dass sich Bildungs- und soziale Ungleichheiten in der deutschen Gesellschaft auch in der Auseinandersetzung mit der Geschichte widerspiegeln.
  • Neue und oftmals digitale Wege der Auseinandersetzung stießen bei einem Teil der Befragten auf Interesse und könnten somit sinnvolle Ergänzungen zu den bestehenden Angeboten der historisch-politischen Bildung sein.
  • Es erscheine als Herausforderung der Erinnerungskultur und der historisch-politischen Bildung in Deutschland, eine Vielfalt von Angeboten sowohl im Hinblick auf die Methoden als auch im Hinblick auf die Diversität von Personengruppen sicherzustellen, die mit den Angeboten erreicht werden sollen.
  • Die eigene Familienbiografie biete nicht für alle Befragten einen unmittelbaren Bezugspunkt zur NS-Zeit, zum Beispiel aufgrund einer familiären oder individuellen Migrationsgeschichte.  
  • Die Erinnerung an die Opfergruppen des Nationalsozialismus werde dem Anspruch, aller Opfergruppen zu gedenken, nicht gerecht. Eine Stärkung der Perspektiven dieser Gruppen in der deutschen Erinnerungskultur sei wünschenswert.
  • Revisionistische Perspektiven hinsichtlich der Rolle und Involviertheit der deutschen Bevölkerung in der Zeit des Nationalsozialismus seien zumindest in Teilen der deutschen Bevölkerung heute anschlussfähig. Auch bei ausdrücklicher Nachfrage zeigten sich in der vorliegenden Untersuchung klare Tendenzen, die Mitverantwortung der Bevölkerung für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren oder das Leiden der deutschen Bevölkerung in der NS-Zeit mit dem Leid der vom NS-Regime verfolgten Gruppen gleichzusetzen. Perspektiven wie diese könnten gleichermaßen als Ausdruck und Einfallstore revisionistischen und rechtspopulistischen Gedankenguts gewertet werden.
  • Die explizit geschichtsrevisionistische Aussage, das Leiden der deutschen Bevölkerung während der gegenwärtigen Corona-Pandemie könne mit dem Leid der Menschen in der NS-Zeit verglichen werden, hätten die Befragten in der aktuellen Studie zwar mehrheitlich abgelehnt. Doch stimme ein nicht unerheblicher Teil der Befragten Verschwörungserzählungen zu, und diese Zustimmung gehe mit einem erhöhten Ausmaß geschichtsrevisionistischer Perspektiven auf die NS-Zeit einher. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit einer Zivilgesellschaft, die Angriffen auf die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und ihrer Opfer nicht nur entschieden entgegentritt, sondern diesen auch mit fundiertem historischem Wissen begegnen kann.

Auf Basis der vorliegenden Ergebnisse scheint den Autor*innen eine grundlegende Schlussfolgerung angebracht: Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sollten ihre Selbsteinschätzung regelmäßig kritisch hinterfragen. Es sei unverzichtbar, dass sie historisch gut informiert, für Diskriminierung sensibilisiert und im Einsatz gegen die Ausgrenzung marginalisierter Gruppen aktiv engagiert sind.