Studie mit Handlungsempfehlungen

MINT Nachwuchsbarometer 2017 – Fokus: Bildung in der digitalen Transformation

Thema

Digitalisierung in MINT-Fächern

Herausgeberschaft

acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften/Körber-Stiftung

Erscheinungsort

München/Hamburg

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Körber-Stiftung

Literaturangabe

MINT Nachwuchsbarometer 2017. Fokusthema: Bildung in der digitalen Transformation. Hrsg. v. acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und Körber-Stiftung. München/Hamburg 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Es wird davon ausgegangen, dass der Mangel an Fachkräften den Wirtschafts- und Innovationsstandort Deutschland bedroht, da fachlich gut qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für einen technologisch geprägten Strukturwandel dringend gebraucht werden – von der Energiewende über neue Mobilitätskonzepte bis hin zur Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Allerdings herrscht vor allem in den dafür wichtigen MINT-Disziplinen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) Nachwuchsmangel. Die frühzeitige und kontinuierliche Förderung der MINT-Bildung wird daher als eine vorrangige gesellschaftliche Aufgabe betrachtet.

Das MINT Nachwuchsbarometer ist ein bundesweiter Trendreport, der von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und der Körber-Stiftung herausgegeben und vom Forschungsinstitut DIALOGIK in Stuttgart erstellt wird. Diese Studie zielt darauf, das Interesse sowie die Motivation von Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden, Studierenden und Lehrkräften für die MINT-Fächer zu erfassen. Dabei werden auch die strukturellen Rahmenbedingungen der MINT-Bildung in den Blick genommen. Auf Basis dieser Erkenntnisse sollen Trends und kritische Entwicklungen rechtzeitig erkannt und Ansatzpunkte für eine systematische Nachwuchsförderung geschaffen werden.

Das MINT Nachwuchsbarometer erscheint jährlich seit 2014 und wird jeweils um vertiefende Schwerpunkte ergänzt. Es basiert methodisch überwiegend auf Sekundäranalysen, doch werden auch eigene Erhebungen und Befragungen durchgeführt.

Im MINT Nachwuchsbarometer 2017 wird die Entwicklung im Zeitraum 2015 bis 2016 untersucht. Der Schwerpunkt lag auf der Frage, inwieweit in Deutschland junge Menschen ausreichend auf die digitale Transformation vorbereitet werden und welche zusätzlichen Maßnahmen ergriffen werden sollten.

Wichtige Ergebnisse

MINT in Schule und Studium: Befunde

Es besteht weiterhin ein geringes Interesse an naturwissenschaftlichen Leistungskursen: Bei den Schülerinnen und Schüler ist die Nachfrage nach Leistungskursen in Naturwissenschaften, Technik und Informatik nach wie vor gering.

Schülerinnen sind in MINT-Fächern unterrepräsentiert: In der Schule werden die Fächer Informatik, Physik und Chemie vor allem von Jungen gewählt. Die Mädchen entscheiden sich häufiger für Biologie, Kunst oder Musik.

Die Zahl der MINT-Studierenden hat sich nicht vergrößert: Der Anteil der Studienanfängerinnen und -anfänger in MINT-Fächern ist in den letzten Jahren mehr oder weniger unverändert geblieben und lag 2016 bei 39 Prozent. Zwar ist das Interesse am Fach Informatik gestiegen, doch ist das Interesse an den Fächern Elektrotechnik und Maschinenbau gleichzeitig zurückgegangen. Der Frauenanteil innerhalb der MINT-Fächer bleibt stabil bei 31 Prozent. Allerdings entscheiden sich Frauen inzwischen etwas häufiger für die Studiengänge Informatik, Physik, Elektrotechnik und Maschinenbau.

Großer Mangel besteht beim MINT-Lehrkräftenachwuchs: Nach wie vor gibt es zu wenige MINT-Lehrkräfte. Besonders schlecht ist die Lage an Berufsschulen, wo sich lediglich rund 20 Prozent der angehenden Lehrkräfte für MINT-Fächer ausbilden lassen.

Deutschland hinkt im internationalen Vergleich bei MINT als Berufswunsch hinterher: Nur 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland können sich einen naturwissenschaftlich orientierten Beruf vorstellen. Damit zählt Deutschland im weltweiten OECD-Vergleich von über 60 Ländern zu den Schlusslichtern (Spitzenreiter USA: 38 Prozent, Großbritannien: 29 Prozent).

 

Fokusthema: Bildung in der digitalen Transformation

Es herrscht Konsens, dass Digitalkompetenzen in Zukunft zwingend erforderlich sein werden, um gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben.

1. Defizite bei der Vermittlung digitaler Kompetenzen

Deutsche Schülerinnen und Schüler belegen bei den digitalen Kompetenzen im internationalen Vergleich nur einen mittleren Platz. Es zeigt sich, dass die Jugendlichen ihre digitalen Kompetenzen vor allem im privaten Umfeld erlernen, indem sie sich viele grundlegende Kenntnisse selbst oder mit Unterstützung von Freunden, Geschwistern und Eltern beibringen. In der Schule werden digitale Kompetenzen offenbar nur teilweise vermittelt:

  • In der Grundschule haben nur 20 Prozent der 6- bis 8-Jährigen regelmäßig Unterricht am Computer oder dürfen ihn in Pausen oder Nachmittagsangeboten nutzen. 73 Prozent der Kinder in der 9. Klasse nutzen den Computer zu Hause fast täglich, aber nur 1 Prozent auch in der Schule.
  • Die Lehrinhalte an weiterführenden Schulen sind auf Internet-Recherchen (81 Prozent) und die Bedienung von Programmen (73 Prozent) ausgerichtet. Technische Grundlagen (36 Prozent) oder das Programmieren einer Website (26 Prozent) werden seltener vermittelt.

Deutlich wird auch, dass die soziale Herkunft über die Nutzungsbreite digitaler Anwendungen entscheidet. Bildungsferne Jugendliche trauen sich in der digitalen Welt meist weniger zu.

2. Zu wenig Unterstützung für die Eltern

Die Eltern zeigen sich aufgeschlossen für digitale Medien, bräuchten aber mehr Unterstützung und Orientierung. Sie sind der primäre Ansprechpartner ihrer Kinder zum Umgang mit digitalen Geräten, doch fühlen sie sich bei Themen wie Datensicherheit und Datensouveränität häufig überfordert.

Der Großteil der Eltern (86 Prozent) ist der Meinung, dass Schule, Lehrkräfte und Eltern bei der Vermittlung von digitalen Kompetenzen an einem Strang ziehen sollten. Mehr als zwei Drittel der Eltern sind der Ansicht, dass digitale Medien grundlegender Bestandteil aller Schulfächer sein sollten. 59 Prozent sprechen sich für die Vermittlung von Programmierkenntnissen in der Schule aus.

3. Keine zeitgemäße technische Ausstattung in Schulen

Die Ausstattung der Schulen mit digitalen Geräten hält mit der technischen Entwicklung meist nicht Schritt. Das betrifft auch die Qualität der Netzanbindung und die IT-Infrastruktur, für deren Wartung häufig die Lehrkräfte selbst zuständig sind.

  • Stationäre PCs (99 Prozent), Notebooks (89 Prozent), Beamer (98 Prozent) und Digitalkameras (91 Prozent) sind an den meisten Schulen vorhanden; deutlich seltener dagegen mobile Endgeräte wie Tablets (18 Prozent) oder Smartphones (7 Prozent).
  • 66 Prozent der Lehrkräfte und 58 Prozent der Schülerinnen und Schüler bringen private Geräte für den Unterricht in die Schule mit.
  • Nur bei etwas mehr als einem Drittel der Schulen kümmert sich eine externe IT-Fachkraft um die Administration und Wartung der digitalen Geräte.
  • Neun von zehn Schülerinnen und Schülern nutzen in der Schule ein Handy oder Smartphone. Etwa 20 Prozent berichten von einem generellen Verbot solcher Geräte in der Schule.

4. Mängel bei der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften

Die Lehrkräfte stehen dem Wandel überwiegend aufgeschlossen gegenüber, doch räumen sie bei der Anwendungskompetenz Nachholbedarf ein. Bisher mangelt es jedoch noch an didaktischen Konzepten und geeigneten Fort- und Weiterbildungsangeboten.

  • Nahezu die Hälfte (47 Prozent) der Lehrkräfte würde digitale Medien gern häufiger im Unterricht einsetzen. Auch 64 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind der Meinung, dass ihre Lehrkräfte digitalen Medien eher positiv gegenüberstehen.
  • Die Hälfte der Lehrkräfte (51 Prozent) hat sich im Schuljahr 2015/2016 zum Einsatz von digitalen Medien fortgebildet. Eine von der Schule oder dem Schulträger initiierte Weiterbildung haben 30 Prozent besucht.
  • Nur jede fünfte Lehrkraft gibt an, dass ihr Studium sie auf den Einsatz digitaler Medien im Unterricht näher vorbereitet hat.
  • Nur etwa zehn Prozent der Lehrkräfte entwickeln mindestens einmal im Monat gemeinsam mit anderen Kollegen und Kolleginnen digital unterstützte Unterrichtsstunden.

5. Potenzial der Berufsschulen nicht ausgeschöpft

In Berufsschulen werden digitale Medien meist noch klassisch eingesetzt. Neue Möglichkeiten digitaler Medien, die für mehr Teilhabe und Chancengerechtigkeit sorgen und die Ausbildungsinhalte in Berufsschule und Betrieb enger verzahnen, bleiben weitgehend ungenutzt. Nahezu alle Berufsschullehrkräfte (94 Prozent) bringen sich digitale Kompetenzen selbst bei.

  • Erfahrene Berufsschullehrkräfte nutzen digitale Medien im Unterricht häufiger als ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Sie verfolgen dabei aber eher klassische Lehrkonzepte und stehen den Chancen des digitalen Lernens skeptischer gegenüber.
  • 85 Prozent der Auszubildenden sprechen sich für einen häufigeren Einsatz digitaler Lernmedien im Unterricht aus.
  • Gering qualifizierte Auszubildende sind digitalen Lernmedien gegenüber besonders aufgeschlossen. Die Chancen, gerade diese Jugendlichen für die Inhalte der beruflichen Ausbildung zu begeistern, werden bisher nicht genutzt.

 

Aus den Ergebnissen der Studie werden folgende Empfehlungen entwickelt:

Kultusministerien und Schulträger sollten

  • alle Kompetenzbereiche in den Blick nehmen und verbindlich für alle Schulformen Anforderungen formulieren, wie Schülerinnen und Schüler zu einem selbstständigen und mündigen Leben in der digitalen Welt befähigt werden,
  • gemeinsam mit den Hochschulen eine Qualitätsoffensive für die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften entwickeln und neue kompetenzspezifische Konzepte in Curricula und Lehrplänen strukturell verankern,
  • erst in Konzepte und dann in Hardware investieren,
  • über eine „Pflichtzeit“ für digitale Bildung nachdenken,
  • für mehr Chancengerechtigkeit sorgen, zum Beispiel durch gendersensible und individualisierte Lernprogramme oder gezielte Förderangebote,
  • für die notwendigen technischen Rahmenbedingungen sorgen, insbesondere in den Bereichen WLAN-Nutzung, Netzinfrastruktur, externem IT-Support sowie Cloud-Anbindung an Lernplattformen und Bildungsmedien,
  • Eltern durch Aufklärungskampagnen und konkrete Beratungsangebote mehr Orientierung bieten,
  • außerschulische Programme zur Stärkung der Medienkompetenz von Eltern auflegen.

Schulen sollten

  • didaktische Konzepte entwickeln, die alle Fächer im Blick haben; das bedeutet fächerübergreifende Unterrichtskonzepte sowie  Zusatzangebote zur Förderung von benachteiligten und besonders talentierten Jugendlichen,
  • Lehrkräften mehr Zeit einräumen, um sich fortbilden und neue Unterrichtskonzepte mit dem Einsatz digitaler Medien entwickeln zu können,
  • alternative Nutzungskonzepte privater digitaler Geräte wie „Bring Your Own Device“ (BYOD) erproben und die Anschaffung von digitalen Geräten auf finanzielle Härtefälle beschränken,
  • mehr Zeit für die Entwicklung neuer Unterrichtskonzepte einplanen,
  • die Kooperation zwischen Lehrenden und Lernenden stärken.

Berufsschulen sollten

  • im Unterricht stärker den technologischen Wandel der Arbeitswelt berücksichtigen und digitales Lernen als strategische Chance begreifen.

Unternehmen sollten

  • gezielt digitale Aspekte von Ausbildungsberufen bewerben, um auch bildungsfernere Zielgruppen zu erreichen.

Träger der dualen Ausbildung sollten

  • Unterrichtsansätze entwickeln, die stärker am technologischen Wandel in der Arbeitswelt orientiert sind,
  • digitales Lernen als gemeinsame strategische Chance begreifen.

Eltern sollten

  • ihre Kinder bei der verantwortungsvollen Nutzung ihrer digitalen Endgeräte stärker unterstützen,
  • gemeinsam verabredete Regeln der Nutzung durchsetzen, statt generelle Verbote auszusprechen.

Außerschulische Bildungsinitiativen sollten

  • gemeinsam mit Schulen, Hochschulen und Unternehmen ihre Angebote zur Talent- und Motivationsförderung gezielt ausbauen.

Fazit

Die Autoren betonen, dass es eine der großen Herausforderungen der Gegenwart ist, den digitalen Transformationsprozess mitzugestalten – insbesondere im Bildungssystem. Die Ergebnisse des MINT Nachwuchsbarometers hätten gezeigt, dass es nicht nur um mehr Gerätenutzung im Unterricht geht, sondern vor allem vielfältige neue Kompetenzen und ausreichend qualifizierte Lehrkräfte gebraucht werden. Darüber hinaus gehe es um ein anderes Verständnis von Lernen und Lehren sowie um die Umsetzung von neuen agilen und informatorischen Arbeits- und Denkweisen an Schulen.

In Zukunft brauche es digital mündige Bürgerinnen und Bürger, die im digitalen Wandel die Chancen sehen, ohne die Risiken aus dem Blick zu verlieren. Zu schaffen sei dies nur mit mehr Offenheit, dem Willen zur Veränderung und einem nachhaltigen Bewusstseinswandel aller Beteiligten.