Studie mit Handlungsempfehlungen

Mitreden, Mitgestalten, Mitentscheiden. Fünf Impulse zur Erneuerung demokratischer Beteiligung

Thema

Formen demokratischer Bürgerbeteiligung

Herausgeberschaft

Bertelsmann Stiftung/Allianz Vielfältige Demokratie (Hrsg)

Autoren/Autorinnen

Roland Roth/Anna Renkamp/Andreas Paus

Erscheinungsort

Gütersloh

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung, Stiftungen in der Allianz für Vielfältige Demokratie

Literaturangabe

Roland Roth/Anna Renkamp/Andreas Paus: Mitreden, mitgestalten, mitentscheiden. Fünf Impulse zur Erneuerung demokratischer Beteiligung. Hrsg. v. Bertelsmann Stiftung/Allianz Vielfältige Demokratie. 3. Auflage. Gütersloh 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass die Demokratie in Deutschland vielfältiger geworden ist. Bürgerdialoge und direktdemokratische Abstimmungen würden deshalb in der Praxis der repräsentativen Demokratie einen immer größeren Stellenwert einnehmen – so die Auffassung der „Allianz Vielfältige Demokratie“. Dabei handelt es sich um ein bundesweites Netzwerk von ca. 120 Akteuren aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft, das sich für eine Stärkung und ein besseres Zusammenspiel der drei Formen demokratischer Beteiligung einsetzt (repräsentative, dialogische und direkte Beteiligung). Die „Allianz Vielfältige Demokratie“ wurde von der Bertelsmann Stiftung initiiert und im Jahr 2015 gegründet. Zu den Mitgliedern gehören Vertreterinnen und Vertreter von internationalen Organisationen, Landes- und Bundesministerien, Städten, Verwaltungen, Vereinen und Verbänden, zivilgesellschaftlichen Initiativen und Stiftungen.

Grundgedanke des Engagements ist, dass mehr direkte Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Politik, konstruktive Bürgerdialoge und neue Formate der Bürgerbeteiligung die Demokratie beleben und dazu beitragen können, bessere politische Lösungen zu finden und das Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Das gegenseitige Verständnis von Zivilgesellschaft und Politik könne wachsen, wenn Bürgerinnen und Bürger in heterogen zusammengesetzten Kleingruppen ihre Sorgen und Interessen thematisieren, Hintergründe und Zusammenhänge miteinander diskutieren und Argumente austauschen. Dann steige die Bereitschaft, Probleme differenziert zu betrachten und Konsenslösungen zu finden. Wenn Bürgerinnen und Bürger in Bürgerbeteiligungsprojekten die Erfahrung machen, dass sie gehört und ihre Ideen und Belange berücksichtigt werden, dann steige auch ihre Bereitschaft zur Kompromissfindung und Mitgestaltung. So könnten sachorientierte Bürgerdialoge, mitgestaltende Beteiligung und Abstimmungen auch Antworten auf den zunehmenden Populismus und auf steigende Politikverdrossenheit sein.

Mit dieser Publikation geben die Mitglieder der Allianz auf der Grundlage ihrer Erfahrungen und ihrer Expertise fünf Impulse für eine zeitgemäße und stärkere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in politische Entscheidungsprozesse. Die Publikation wurde von der Bertelsmann Stiftung herausgegeben und auf der Basis der Expertise und Erfahrungen der Mitglieder der „Allianz Vielfältige Demokratie“ von Prof. Dr. Roland Roth, Anna Renkamp und Dr. Andreas Paus verfasst.

Wichtige Ergebnisse

Es werden drei Funktionslogiken demokratischer Beteiligung unterschieden:

1. repräsentativ

  • Modus: Wahlen/Parlamente, Abstimmung über Repräsentanten und Repräsentantinnen
  • Rechtsrahmen: Wettbewerb der Parteien, verbindliche Ergebnisse
  • Rollen: Bürgerinnen und Bürger als Wählende, massenmediale Kommunikation

2. direkt-demokratisch

  • Modus: Volks- und Bürgerentscheide, Abstimmung über Sachfragen
  • Rechtsrahmen: Zuspitzung in der Bürgerschaft, verbindliche Ergebnisse
  • Rollen: Bürgerinnen und Bürger als Entscheidende, massenmediale Kommunikation

3. dialogisch

  • Modus: verschiedene Formate, Konsultation von Bürgerinnen und Bürgern
  • Rechtsrahmen: Konsensorientierung, keine verbindlichen Ergebnisse
  • Rollen: Bürgerinnen und Bürger als Beratende, persönliche Kommunikation

Die Autoren und Autorinnen stellen fest, dass Bürgerinnen und Bürger immer mehr zu Entscheidenden werden: Seit der Einführung direktdemokratischer Abstimmungen auf kommunaler Ebene gab es 7.000 Bürgerbegehren und Ratsreferenden sowie 3.500 Bürgerentscheide, auf Landesebene wurden mehr als 300 direktdemokratische Verfahren eingeleitet.

Bürgerinnen und Bürger hätten auch zunehmend mehr Mitsprache und eine stärkere konsultative Rolle, vor allem über Bürgerbeteiligungsverfahren. Doch seien die neuen Formen der Beteiligung noch nicht gut genug in den Strukturen der repräsentativen Demokratie verankert: Von 11.000 Kommunen haben erst ca. 100 verbindliche Beteiligungsleitlinien erarbeitet. Auch seien die Erwartungen an Bürgerbeteiligung oft unrealistisch und es fehlten Qualitätsstandards sowie verbindliche, klare Regelungen zur konsultativen bzw. mitgestaltenden Rolle der Bürgerinnen und Bürger.

Noch viel zu selten würden die direktdemokratischen Instrumente als Chance für einen sachlich fundierten direkten Austausch zwischen Bürgern und Bürgerinnen und Politikerinnen und Politikern über relevante Fragestellungen genutzt. Zudem werde deutlich, dass in der Realität die unterschiedlichen demokratischen Beteiligungsformen häufig isoliert nebeneinander stehen oder gegeneinander ausgespielt werden.

Empfehlungen zur Erneuerung demokratischer Beteiligung

Impuls 1: Integrierte Partizipation – Direkte, dialogische und repräsentative Beteiligung stärken und miteinander verzahnen

  • Die Öffnung von Gesetzgebungsverfahren verbessert die Qualität der Gesetze.
  • Gute frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung vermindert Konflikte.
  • Bürgerbeteiligung in Kommunen wird in Satzungen verbindlich verankert.
  • Die Kombination von Bürgerdialogen mit direkt-demokratischen Verfahren schafft bessere Lösungen.
  • Standards für Abstimmungsinformationen versachlichen die Debatten.

Impuls 2: Transparenz – Mehr Transparenz über Beteiligungs- und Entscheidungsprozesse herstellen

  • Transparenzleitlinien erhöhen die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungsprozessen.
  • Es wird umfassende Transparenz über Infrastrukturprojekte durch ein zentrales Online-Informationssystem hergestellt.
  • Eine systematische Erfassung macht die Vielfalt der Beteiligungsformen sichtbar.

Impuls 3: Qualität – Mehr Qualität von Bürgerbeteiligung durch einen verbindlichen Rahmen sichern

  • „Grundsätze für Qualität“ sorgen für einen Qualitätsschub. Dazu gehören ein frühzeitiger Start, ausreichende Ressourcen sowie ein klarer Umgang mit Ergebnissen.
  • Verbindliche Rahmenbedingen tragen zur flächendeckenden Anwendung in der Praxis bei.

Impuls 4: Breite Beteiligung – Menschen inklusiv und breit beteiligen

  • Aufsuchende und zielgruppenspezifische Ansprache aktiviert zum Mitmachen.
  • Eine Zufallsauswahl ist Garant für unterschiedliche Sichtweisen.
  • Direkte Formen des Dialogs mit der Politik verbessern die Verständigung.
  • Finanzielle Anreize für „Beteiligungsprojekte“ können zur breiten Beteiligung motivieren.

Impuls 5: Kompetenz – Partizipationskompetenzen erwerben und Serviceeinheiten aufbauen

  • Durch Organisationseinheiten für Bürgerbeteiligung werden Kompetenzen in Ministerien und Behörden verankert.
  • In Aus- und Weiterbildung werden Curricula zur Bürgerbeteiligung eingeführt.
  • Ausreichende finanzielle und personelle Ressourcen sorgen für Qualität und Professionalität.

Initiative „Demokratie beleben – Teilhabe stärken“

Die Weiterentwicklung demokratischer Beteiligungsformen wird als zentrale Herausforderung für die Zukunft der Demokratie in Deutschland betrachtet. Dazu bedarf es nach Ansicht der Autoren und der Autorin eines breiten gesellschaftlichen Diskurses. Eine Initiative von Bürgerschaft und Politik könne dazu beitragen, die Debatte über die demokratische Beteiligung und die Belebung der Demokratie zu intensivieren. Im Dialog zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft könnten strukturelle Fragen diskutiert und konkrete Reformvorschläge zur Stärkung demokratischer Teilhabe erörtert werden. Das Thema „Stärkung demokratischer Teilhabe“ lege eine beteiligungsorientierte Ausgestaltung der Initiative nahe.

Denkbare Formate seien zum Beispiel Bürgerdialoge

  • die unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten stehen,
  • die mit einer Enquete-Kommission des Bundestags kombiniert werden,
  • die von Bürgerschaft und Politik gemeinsam und gleichberechtigt getragen werden, und zum Beispiel durch Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft und der Politik initiiert werden.

Die Initiative auf Bundesebene könnte durch lokale und regionale Dialogformate und eine interaktive Internetpräsenz begleitet werden.