Fachpublikation

Nach der Revolution. Ein Brevier digitaler Kulturen

Thema

Digitalisierung in der Wissenschaft

Herausgeberschaft

Timon Beyes/Jörg Metelmann/Claus Pias (Hrsg.)

Autoren/Autorinnen

Timon Beyes/Jörg Metelmann/Claus Pias

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Haniel Stiftung

Literaturangabe

Timon Beyes/Jörg Metelmann/Claus Pias (Hrsg.): Nach der Revolution. Ein Brevier digitaler Kulturen. Berlin 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Digitale Technologien prägen und verändern mittlerweile alle Lebensbereiche der Gesellschaft. Die Herausgeber betrachten Digitalisierung nicht als Zukunftsphänomen, sondern gehen davon aus, dass der technologisch-kulturelle Wandel bereits stattgefunden hat; in diesem Sinne befinden wir uns „nach der (digitalen) Revolution“. Digitale Technologien seien heute allgegenwärtig, selbstverständlich und zu großen Teilen unsichtbar, sie durchwirkten grundlegende lebensweltliche Erfahrungen, soziale Milieus, Prozesse gesellschaftlicher Ordnung und Organisation, die meisten beruflichen Praktiken sowie fast alle Gestaltungsprozesse.

Der Sammelband enthält 15 Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen (Medien- und Kulturwissenschaft, Soziologie, Organisations- und Managementforschung, Ethnologie, Sozialpsychologie, Kulturgeschichte). In kurzen Essays werden pointiert Aspekte des kulturellen Wandlungsprozesses durch Digitalisierung beleuchtet, unter anderem Digitale Migration, Selbstdarstellung und Selbsterkenntnis in digitalen Kulturen, Veränderungen im Organisationsmanagement durch Algorithmen, Internet der Dinge, neue Entwicklungen in den sozialen Medien, Potenziale und Risiken von bewusstseinsbezogenen mobilen Geräten.

Zwei Beiträge beschäftigen sich mit dem Thema Wissenschaft in digitalen Kulturen:

  • „Simulation“: Prof. Dr. Claus Pias erläutert, wie Computersimulationen in digitalen Kulturen die Lage der Wissenschaften bestimmen.
  • „Big Data“: Prof. Dr. Ramón Reichert verdeutlicht, wie die digitale Großdatenforschung grundlegende Umbrüche in den Bereichen von Wissen und Gesellschaft mit sich bringt.

Das Buch ist im Kontext des European Haniel Program entstanden, das an den europäischen Wirtschaftsuniversitäten von St. Gallen und Kopenhagen angesiedelt ist. Das von der Duisburger Haniel Stiftung ermöglichte Programm erlaubt es, Themen wie „Digitale Kulturen“ in der Lehre gemeinsam mit Studierenden zu bearbeiten und mit eingeladenen Forscherinnen und Forschern zu diskutieren. Die Publikation ist in der Reihe „Duisburger Dialoge“ der Haniel Stiftung und in Zusammenarbeit mit dem Centre for Digital Cultures der Leuphana Universität Lüneburg entstanden. Die Herausgeber des Bandes sind zwei Professoren der Leuphana Universität Lüneburg (Prof. Dr. Timon Beyes, Prof. Dr. Claus Pias) und ein Titualprofessor an der Universität St. Gallen in der Schweiz (Prof. Dr. Jörg Metelmann). Die Haniel Stiftung übernahm auch die Finanzierung der Publikation.

Wichtige Ergebnisse

Ausgewählte Ergebnisse

Nach Ansicht der Herausgeber geht es nicht nur um „Digitalisierung“ einzelner Wissens- und Lebensbereiche – indem alles digitalisiert wird, was vorher analog war –, sondern um einen umfassenden, einschneidenden Wandel hin zu „digitalen Kulturen“. Dieser Begriff soll verdeutlichen, dass es sich um ein komplexes Wechselspiel von Medientechnologie und kultureller Formung der Welt handelt, aus dem neue, originäre Qualitäten eines soziotechnisch geprägten Lebens hervorgehen. So hätten sich nicht nur die Formen der Verarbeitung, Speicherung und Übertragung von Daten grundlegend gewandelt, sondern auch die an sie geknüpften menschlichen Handlungsweisen und Sozialformen. Das Ausmaß des digitalen Wandels sei noch nicht abzusehen. Deshalb müsse es nun darum gehen, die erkennbaren Umbrüche verständlicher, lesbarer und damit auch verhandelbar zu machen.

Wandel der Wissenschaft durch Computersimulationen

Nach Claus Pias bestimmen in digitalen Kulturen Computersimulationen die Lage der Wissenschaften. Neues Wissen, das in Computersimulationen entsteht, greife heute tief in den Lebensalltag ein, etwa in Form von ökologischen, medizinischen, ökonomischen oder technischen Abwägungen und Entscheidungen, die auf diesem Wissen beruhen. Dadurch würden auch neue wissenschaftliche Probleme und damit verbundene Forschungsfelder entstehen.

Im Hinblick auf das Wissenschaftsverständnis sei festzustellen, dass sich die tradierten Verhältnisse von Theorie und Experiment grundlegend verschoben haben (von der experimentellen und mathematischen Mechanik Newtons hin zu System-„Verhaltenswissenschaften“ mit Interpretationsspielräumen). Computersimulationen würden als eine neue Art von Kulturtechnik auch die „Weltbilder“ und politischen Handlungsräume globalisierter Gesellschaften prägen, etwa im Kontext komplexer Krisenszenarien wie Klimawandel, Epidemiologie oder Finanzmarktdynamiken. Mit Computersimulationen habe sich seit 1945 ein kulturtechnisches Verfahren entwickelt, das grundlegend andere Orientierungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten in der Welt mit sich bringt.

Deutlich wird nach Pias, dass die Veränderung der Wissenschaften hin zu digitalen Forschungskulturen das Ergebnis eines eminent medienhistorischen Umbruchs ist. Denn digitale Medien würden einen Eigensinn entwickeln,

  • indem sie Probleme generieren und bearbeiten, die zuvor oft weder analytisch noch experimentell zugänglich waren,
  • originäre Lösungsverfahren zwischen oder neben den disziplinären Wissensgebieten entwickeln,
  • eigentümliche Arbeits- und Darstellungsweisen herausbilden, die nicht mehr in andere Medien rückübersetzt werden können.

Dadurch markierten sie eine mediale Zäsur. Diese vollziehe sich im Rahmen von Hard- und Softwareentwicklung, von wechselnden Verfahren der Modellierung und Parametrisierung, von neuen Weisen der Datengenerierung, -verarbeitung und -visualisierung, die zugleich Motor und Möglichkeitsbedingung der Herausbildung von (neuen) digitalen Wissens- und Forschungskulturen sind.

In Computersimulationen trenne sich die Performanz des Modells von der Genauigkeit der Berechnung, und es gehe weniger um Gesetze als um Regeln. Daraus lasse sich wiederum der Schluss ziehen, dass es dabei nicht um Beweise, sondern um die Demonstration von Adäquatheit geht. Computersimulationen seien provisorische Erkenntnisstrategien,

die in einen Anwendungshorizont eingebettet sind, gewissermaßen „postmoderne“ Wissenschaften mit fiktionalen Elementen und begrenzter Geltung. Vor diesem Hintergrund bedürfe es auch neuer Formen der Kritik.

Grundlegende Veränderungen durch digitale Großdatenforschung

Nach Ramón Reichert schafft die digitale Großdatenforschung („Big Data“) grundlegende Umbrüche, unter anderem in den Bereichen von Wissen und Gesellschaft. Soziale Netzwerke und Online-Plattformen hätten sich innerhalb der letzten Jahre zu gewichtigen Quellensammlungen für die statistische Massenerhebung entwickelt: Mithilfe datenbasierter digitaler Methoden hätten sie neue Formen sozialempirischen Wissens hervorgebracht. Ihre gigantischen Datenbanken dienten der systematischen Informationsgewinnung und würden für das Sammeln, Auswerten und Interpretieren von sozialstatistischen Daten und Informationen eingesetzt. In ihrer Funktion als Speicher-, Verarbeitungs- und Verbreitungsmedium von Massendaten hätten soziale Netzwerke umfangreiche Datenaggregate hervorgebracht, die zur Prognose von gesellschaftlichen Entwicklungen herangezogen werden.

Soziale Netzwerke hätten der empirischen Sozialforschung auch neue Möglichkeiten der Quellenerschließung eröffnet. Das Zukunftswissen der sozialen Netzwerke überlagere zwei Wissensfelder: Die empirische

Sozialwissenschaft und die Medieninformatik seien für die Auswertung der medienvermittelten Kommunikation in interaktiven Netzmedien zuständig. Die Sozialforschung sehe in den Kommunikationsmedien der sozialen Netzwerke eine maßgebliche Kraft für die gesellschaftliche Entwicklung.

Vor diesem Hintergrund gibt es nach Auffassung des Autors keine belanglosen Daten mehr und die datenkritische Reflexion sämtlicher Praktiken der Datengewinnung, -modellierung und -verwertung werde zu einer zentralen Kernkompetenz in der Datengesellschaft.

Deshalb erscheint es dem Autor wichtig, eine gehaltvolle datenkritische Perspektive zu entwickeln, die nicht nur auf die Fragestellungen der einzelnen Fachbereiche eingeht, sondern darüber hinaus eine breit aufgestellte politische Theorie der Datengesellschaft entwickelt, die eine Vielzahl kritisch-reflektierender Perspektiven zu adressieren vermag.