Fachpublikation

Wegweiser breite Bürgerbeteiligung

Thema

Bürgerbeteiligung in einer vielfältigen Gesellschaft

Herausgeberschaft

Bertelsmann Stiftung/Allianz Vielfältige Demokratie

Erscheinungsort

Gütersloh

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung/Allianz Vielfältige Demokratie

Literaturangabe

Wegweiser breite Bürgerbeteiligung. Argumente, Methoden, Praxisbeispiele. Hrsg. v. Bertelsmann Stiftung/ Allianz Vielfältige Demokratie. Gütersloh 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Die Publikation wurde von der Bertelsmann Stiftung und der „Allianz Vielfältige Demokratie“ herausgegeben. Die Allianz ist ein Netzwerk aus 120 Akteuren aus Wissenschaft, Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft, darunter auch Stiftungen (Bertelsmann Stiftung, Bürgerstiftung Bremen, Breuninger Stiftung Stuttgart, Stiftung Zukunft Berlin, Stiftung Mitarbeit Bonn). Die 2015 gegründete Allianz wurde von der Bertelsmann Stiftung initiiert. Ziel ist es, die Bürgerbeteiligung zu stärken und zu einem konstruktiven Zusammenwirken von dialogischer, direkter und repräsentativer Beteiligung beizutragen. Die Allianz setzt sich für inklusive und breite Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen ein, um der sozialen Spaltung der Demokratie in Deutschland entgegenzuwirken. Die Akteure aus Bund, Ländern und Kommunen arbeiten in diesem Rahmen bei der Gestaltung der vielfältigen Demokratie zusammen und bringen dafür ihre persönlichen Erfahrungen und ihre Expertise ein. Sie entwickeln, erproben und implementieren konkrete Lösungen für die demokratische Praxis.

Ausgangspunkt der Publikation ist, dass sich politische Beteiligung in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat und vielfältiger geworden ist. Neue partizipative Formate würden Bürgerinnen und Bürgern neue Möglichkeiten der Mitwirkung und Mitentscheidung geben. Bürgerbeteiligung ergänze zunehmend die traditionellen und repräsentativen Verfahren, z.B. das Engagement in politischen Parteien oder die Teilnahme an Wahlen. In vielen Stadtentwicklungs- und Infrastrukturprojekten würden inzwischen Bürgerinnen und Bürger beteiligt, meist in („deliberativen“) Verfahren mit beratschlagender Funktion.

Bei den klassischen, eher formalen Beteiligungsverfahren, wie z.B. Anhörungen oder Bürgerversammlungen, habe man jedoch feststellen können, dass sich dort vor allem jene Gruppen zu Wort melden, die ohnehin politisch interessiert und engagiert sind. Angesichts dessen werde deutlich, dass die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung derzeit noch nicht ausgeschöpft werden. Notwendig sei eine breite, inklusive Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. Nur dann könne erreicht werden,

  • im Vorfeld einer politischen Entscheidung alle Interessen zu berücksichtigen,
  • das Gemeinwohl effektiv zu fördern,
  • hohe Akzeptanz herzustellen,
  • das Vertrauen in demokratische Institutionen zu stärken und
  • die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Demokratie zu erhöhen.

Zudem seien dialogorientierte Verfahren erforderlich, die frühzeitig auf die Mitwirkung aller betroffenen Gruppen und Interessen setzen. Die Akteure, die Bürgerbeteiligung initiieren und organisieren, kämen in der Regel aus Politik und Verwaltung. Sie würden die Verantwortung, die Kosten und den zeitlichen Mehraufwand tragen, könnten zugleich aber auch enorm von Bürgerbeteiligungsverfahren profitieren.

Was wird unter „breiter Beteiligung“ verstanden?

Breite Beteiligung bemisst sich nach Ansicht der Autorinnen und Autoren nicht an der reinen Anzahl der Personen, die sich bei Bürgerbeteiligungsverfahren engagieren. Eine Beteiligung könne dann als breit bezeichnet werden, wenn alle Interessen, Meinungen und Ideen, die es in einer politischen Gemeinschaft gibt, möglichst gut abgebildet sind. Es gehe um Vielfalt statt um Vielzahl. Breite Beteiligung folge somit auch dem Grundsatz der Inklusivität: Die ohnehin Aktiven und Integrierten, die formal Gebildeten und mittleren Altersgruppen sollten dabei nicht überrepräsentiert sein. Ziel ist es, dass alle Gruppen, die von der Entscheidung betroffen sind, auch im Beteiligungsverfahren angemessen vertreten sind – auch jene, die ihre Stimme eher selten erheben oder nur schwer erheben können. Breite Beteiligung öffne sich demnach nicht nur uneingeschränkt für alle Bürgerinnen und Bürger, sondern fördere auch aktiv die Teilnahme beteiligungsferner Gruppen.

Im Mittelpunkt des Wegweisers breite Bürgerbeteiligung stehen folgende Fragen:

  • Auf welche Weise lassen sich unterschiedliche Zielgruppen ansprechen? Mit welchen Methoden können auch beteiligungsferne Gruppen gewonnen werden?
  • Wie können unterstützende Strukturen geschaffen werden?

Mit konkreten Praxisbeispielen und Methoden wird aufgezeigt, wie breite Beteiligung gelingen kann, welche Barrieren zu überwinden sind und welche Vorteile für Politik und Verwaltung damit verbunden sind.

Wichtige Ergebnisse

Warum braucht Politik breite Beteiligung?

1. Stärkung der repräsentativen Demokratie

Die Allianz weist darauf hin, dass durch mehr Dialog und breite Beteiligung die repräsentative Demokratie und die gewählten politischen Repräsentanten und Repräsentantinnen in den Parlamenten gestärkt werden können. Zwar würden die gewählten repräsentativen Gremien weiterhin die Entscheidungen treffen, doch verbreitere sich die Grundlage für die Entscheidungen erheblich, weil zuvor das Wissen der Bürgerinnen und Bürger eingeholt wurde. Das steigere die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Demokratie.

2. Verbesserung der politischen Entscheidungen

Das Wissen der Bürgerinnen und Bürger sei eine wertvolle Ressource und berge das Wissen der Vielen als wertvolles Potenzial. Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Stadtteils würden ihr Quartier oftmals länger und aus anderer Perspektive kennen als kommunale Planende und externe Fachleute. Deshalb seien die Ideen, anderen Blickwinkel und Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger wichtige Entscheidungshilfen für die Stadtentwicklung. Wenn diese in politische Entscheidungsprozess einfließen, verringere sich das Risiko von Verzögerungen, Planungsfehlern und Protesten. Zwar sei es anfangs oft aufwändiger, mit den Menschen – statt lediglich für die Menschen – zu planen, doch seien die Ergebnisse oft besser.

3. Rolle als Volksvertretung stärken

Breite Beteiligung verschaffe Bürgerinnen und Bürgern einen realistischeren Blick auf die politische Arbeit und auf demokratische Prozesse. Der Dialog auf Augenhöhe mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen bedeute echte Bürgernähe und fördere das Verständnis der Menschen für das Handeln von Politikerinnen und Politikern. Bürgerinnen und Bürger würden erfahren, dass politische Entscheidungen zwar am besten durch Konsens, oft aber nur durch Kompromisse möglich werden. Das helfe, auch Entscheidungen zu akzeptieren, die den eigenen Vorstellungen nicht entsprechen. Breite Beteiligung erhöhe somit das Vertrauen in Politikerinnen und Politiker und stärke deren Wahrnehmung als Personen der Volksvertretung. So könne auch der Rückgang von Wahlbeteiligung und der Mitarbeit in Parteien ausgeglichen werden.

4. Beweisen der Qualität von Lokalpolitik und Werben für das politische System

Breite Beteiligung müsse man allerdings auch zulassen können. Es sei für Politikerinnen und Politiker durchaus eine Herausforderung, sich mit verschiedenen Menschen auseinanderzusetzen und unterschiedliche Bürgermeinungen anzuerkennen. Politische Entscheidungen und Pläne offen zu diskutieren erfordere Mut und zugleich Verlässlichkeit. Deshalb sei ernst gemeinte, erfolgreiche Beteiligung immer auch Ausdruck eines leistungsfähigen politischen Systems. Sie gelinge nur innerhalb funktionierender demokratischer Strukturen und sei ein Qualitätskriterium für lokale Politik.

5. Verhinderung von sozialer Selektivität durch breite Beteiligung

Breite Beteiligung sei für die Politik eine Gelegenheit, diejenigen zu aktivieren, die sich von Stadtpolitik bislang nicht angesprochen fühlten. Durch Zufallsauswahl und besondere Ansprache könnten Beteiligungsverfahren einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung erfassen. Breite Beteiligung ziele auf große Vielfalt. Wenn sie alle sozialen Gruppen und Schichten erreiche, liefere sie der Politik damit ein vielfältiges Meinungsbild. Wenn sich in Beteiligungsverfahren nur diejenigen engagieren, die sich ohnehin für das Gemeinwesen einsetzen – vielleicht noch ergänzt um Gegnerinnen und Gegner des konkreten Projekts –, dann sei die Chance einer echten Beteiligung vertan.

6. Etablieren einer politischen Kultur des Dialogs

Für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger sei Beteiligung auch eine Form der politischen Bildung. Wer mitwirke, lerne demokratische Spielregeln zu akzeptieren. Beteiligung fördere die Mitsprache- und Diskussionskompetenz und die politische Urteilsfähigkeit der Menschen. Bürgerinnen und Bürger, die mitreden dürfen und sich gut informiert fühlen, würden eher das Bedürfnis entwickeln, sich konstruktiv einzubringen. Sie könnten erleben, dass sie gehört werden und auf politische Entscheidungen Einfluss haben. Das könne ihnen Mut machen, in einen aktiven Dialog auch mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Meinungen einzutreten.

7. Nutzen der Beteiligung als Seismograph und frühzeitiges Erkennen von Unzufriedenheit in der Bevölkerung

Breite Beteiligung zielt darauf, auch jene Bürgerinnen und Bürger zu aktivieren, denen es an Beteiligungserfahrung fehlt, die ihr Vertrauen in Politik und demokratische Strukturen verloren haben oder die sich aus Bequemlichkeit nicht beteiligen. Ebenso Menschen, die sich nicht gut ausdrücken können, oder sich nicht trauen, vor anderen zu sprechen. Ohne Beteiligungsverfahren höre Politik zwar die Stimmen der Projektgegnerinnen und -gegner und der organisierten Interessen. Sie nehme aber nicht unbedingt die Sorgen der stillen Gruppen wahr, die manchmal sogar eine schweigende Mehrheit seien. Für Politik sei es aber wichtig, diese Sorgen zu kennen. Wachsende Unzufriedenheit münde schnell in Protestentscheidungen bei der nächsten Wahl.

8. Stärken des sozialen Zusammenhalts und Förderung der Identifikation mit Stadt und Heimat

Breite Beteiligung führe die Menschen zusammen. An einem Tisch könnten sie gemeinsam nach Lösungen suchen, etwa nach der besten Route für die neue Ortsumgehung, oder Gestaltungsideen für den neuen Stadtteil diskutieren. So werde es möglich, die Umgebung, in der sie leben, in Zusammenarbeit zu entwickeln. Diese Arbeit fördere nicht nur das Verständnis füreinander, sondern schaffe auch Identifikation mit der eigenen Gemeinde oder Stadt. Kommunen, die dieses Verständnis von Beteiligung entwickeln, seien starke und moderne Kommunen. Sie förderten den sozialen Zusammenhalt und seien attraktiv für neue Bürgerinnen und Bürger.

 

Empirische Ergebnisse: Was kann Beteiligung leisten?

1. Beteiligung verbessert Politikergebnisse

Dialogorientierte Beteiligung könne die Ergebnisse politischer Entscheidungsprozesse stärker als andere Beteiligungsformen verbessern. Diese Meinung vertraten viele Bürgerinnen und Bürger, aber auch Akteure in Entscheidungspositionen (Ergebnis einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung 2014). Dabei gebe es Differenzen im Ausmaß der wahrgenommenen Verbesserungen der verschiedenen Verfahren (Bürgerdialog, Bürgerentscheid, Ratsentscheidungen, Fachentscheidungen in der Verwaltung) sowie zwischen Bürgerinnen und Bürgern und politisch Entscheidenden.

2. Bürgerbeteiligung erhöht die Akzeptanz von Politikentscheidungen

Bürgerbeteiligung erscheine für Politik auf den ersten Blick oftmals unbequem. Mittel- und langfristig mache Beteiligung das Regieren allerdings leichter, da die Akzeptanz für politische Beschlüsse in der Bürgerschaft steige, wenn sie im Vorfeld mitdiskutieren konnte.

3. Gut gemachte Bürgerbeteiligung stärkt die Demokratie und das Vertrauen in die repräsentative Demokratie

Bürgerbeteiligung verändere Bewusstsein – auch über das konkrete Projekt hinaus. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung habe gezeigt, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Beteiligungsprozessen ein positiveres Bild unserer Demokratie haben.

4. Die Kosten von Beteiligung werden durch den Ertrag bei Weitem aufgewogen und können als Investitiion betrachtet werden.

Bürgerbeteiligung gebe es zwar nicht umsonst, sei aber im Vergleich zu den Gesamtkosten eines Infrastrukturprojekts günstig. Werde Beteiligung gut gemacht, rechtfertige der Ertrag schon bald die Kosten.

 

Warum braucht Verwaltung Beteiligung?

1. Bürgerinnen und Bürger als Partner verstehen – und gegenseitiges Verständnis erhöhen

2. Transparenz schaffen – und auf mehr Akzeptanz stoßen

3. Bürgerinnen und Bürger als lokale Experten und Expertinnen begreifen – und zu besseren Ergebnissen kommen

4. Eigene Effizienz steigern – und Fehlplanungen vermeiden

5. In breite Beteiligung investieren – und dadurch an anderer Stelle sparen

6. Konflikte sichtbar machen – und im Dialog lösen

7. Dienstleistungen passgenau machen – und Professionalität beweisen

8. Zivilgesellschaft beleben – und Engagement für Stadtentwicklung fördern