FachpublikationHandlungsempfehlungen

Wissenschaft in Verantwortung

Thema

Gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft

Herausgeberschaft

Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.)

Autoren/Autorinnen

Angela Borgwardt

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2020

Stiftungsengagement

Friedrich-Ebert-Stiftung

Literaturangabe

Angela Borgwardt: Wissenschaft in Verantwortung. Schriftenreihe des Netzwerk Wissenschaft der Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin 2020.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Die Publikation hält wesentliche Erkenntnisse einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung fest, die unter dem Titel „Wissenschaft in Verantwortung“ am 21. November 2019 in Berlin stattgefunden hat. Es diskutierten Akteurinnen und Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft über die Frage, welche Verantwortung die Wissenschaft in der Gesellschaft und für die Gesellschaft hat.

Im Mittelpunkt der Vorträge, Debatten und Workshops wurden verschiedene Dimensionen dieses Themas beleuchtet: 

  • Inwiefern hat die Wissenschaft für sich selbst Verantwortung, indem sie hohe Qualitätsansprüche an das eigene Arbeiten stellt?
  • Welche Verantwortung hat die Wissenschaft für die Gesellschaft, die bei der Bewältigung großer Herausforderungen auf ihre Unterstützung angewiesen ist?
  • Gehört es zur Verantwortung von Wissenschaft, den Transfer und die Kommunikation in die Gesellschaft mitzudenken?
  • Wie muss sich Wissenschaft zwischen den Polen der Zurückhaltung und der Einmischung in die gesellschaftlichen Diskussionen unserer Zeit einbringen?
  • Inwieweit sind Orte der Wissenschaft wie Hochschulen auch Orte der politischen Debatte? Wo sind hier Grenzen?
  • Welche Verantwortung hat Wissenschaft für die Menschen, die in ihrem System wirken bzw. beschäftuigt sind? 

Wichtige Ergebnisse

Wesentliche Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen

Aus den Diskussionen wurden folgende Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen herausgearbeitet: 

1. Wissenschaft und Gesellschaft

  • Es sollte ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über die Frage geführt werden, was unter gesellschaftlichem Fortschritt – im Sinne eines positiven sozialen Wandels – verstanden wird und welchen Beitrag Wissenschaft dazu leisten kann.
  • Es muss eine intensive öffentliche Debatte über gesellschaftliche Werte und Ziele geführt werden, bei der auch die Frage beleuchtet wird, welche Verantwortung Wissenschaft hat, etwa in der Forschung zu Künstlicher Intelligenz (KI). Nur dann kann die Gesellschaft wissenschaftliche Prozesse verantwortungsvoll und aktiv begleiten.
  • Damit Wissenschaft in die ganze Gesellschaft wirken kann, muss die gemeinwohlorientierte Wissenschaftskommunikation gestärkt werden. Wichtig ist, wissenschaftliche Ergebnisse durch einfache Sprache verständlich zu vermitteln und dabei an die Alltagssprache der Bürger*innen anzuschließen. Vermittelt werden sollten nicht nur wissenschaftliche Inhalte und Ergebnisse, sondern auch die Prinzipien, Hintergründe, Wertentscheidungen und Methoden der Wissenschaft. Es geht darum, die Wissenschaftsmündigkeit der Bürger*innen zu befördern.
  • Wissenschaftler*innen sollten stärker mit gesellschaftlichen Gruppen kommunizieren, die bisher noch nicht erreicht wurden. Damit könnten auch Menschen mit nichtakademischem Hintergrund Verständnis für Wissenschaft und ihre Funktionsweise entwickeln bzw. ausbauen.
  • In der Öffentlichkeit auftretende Expert*innen sollten wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich vermitteln und zugleich die besondere Logik der Wissenschaft vertreten – nämlich kommunizieren, dass Wissenschaft durch eine relativierende, suchende Bewegung nach Wahrheit gekennzeichnet ist. Wissenschaft produziert keine endgültige Wahrheit, sondern vorläufige Wahrheit, indem in den einzelnen Disziplinen spezifische Methoden zur Anwendung kommen und auf dieser Basis Aussagen getroffen werden, die jederzeit der weiteren Prüfung standhalten müssen und revidiert werden können.
  • Wissenschaft nimmt ihre Verantwortung wahr, wenn sie auch über Unsicherheiten, kritische Punkte, Dispute innerhalb der Wissenschaft spricht.
  • Wissenschaftler*innen und Wissenschaftsjournalist*innen sollten neue Formate der Zusammenarbeit entwickeln, um durch eine Kombination der Fähigkeiten Wissenschaftskommunikation professionell zu gestalten.
  • Tendenzen von Wissenschaftsfeindlichkeit und -skepsis in der Gesellschaft muss entgegengewirkt werden, indem das Vertrauen der Bürger*innen in die Wissenschaft gestärkt wird. Unverzichtbare Voraussetzung dafür ist das Sicherstellen der Qualität von Wissenschaft (Replizierbarkeit, Integrität, gute wissenschaftliche Praxis etc.).
  • In der Bevölkerung muss mehr Bewusstsein für die unterschiedlichen Logiken von Wissenschaft und Politik geschaffen werden.
  • Im gesamten Bildungssystem muss ein Verständnis für die Bedeutung von Wissenschaft und ihre besonderen Prinzipien befördert werden. Wissenschaft sollte möglichst früh in der Bildungsbiografie erfahrbar werden und stärker in der Schule präsent sein, z.B. durch Vorträge von Wissenschaftler*innen.
  • Bürger*innen sollten verstärkt Akteure von Wissenschaft werden bzw. sich qualifiziert an Wissenschaft beteiligen können, z.B. im Rahmen von Bürger*innenwissenschaften, lokaler Forschung, Citizen Science. Die Intensität der Beteiligung kann unterschiedlich sein (Datensammeln und -auswerten, Mitbestimmung bei Forschungsfragen, Durchführen eines Forschungsprozesses).
  • Es sollten mehr und innovative Begegnungsräume und Kommunikationswelten zwischen Wissenschaft und Gesamtgesellschaft geschaffen werden.

2. Wissenschaftssystem

  • In den einzelnen Disziplinen, aber auch disziplinübergreifend sollte ein kontinuierlicher Diskurs über die Verantwortung der Wissenschaft für ihre Ergebnisse etabliert werden.
  • Inter- und transdisziplinäre Ansätze, aber auch die Geistes- und Sozialwissenschaften mit ihrer traditionellen Reflexionsfunktion sollten in der Wissenschaft ein größeres Gewicht erhalten, sowohl in der Forschung wie auch in der Lehre.
  • Fragen der Ethik spielen eine wichtige Rolle, wenn Wissenschaft ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen soll. Wissen muss mit moralischem Handeln in Einklang stehen. Deshalb sollte in der wissenschaftlichen Arbeit die ethische Dimension stärker reflektiert und auch kommuniziert werden.
  • Wissenschaft sollte ihren Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten. Dafür müssen bei Forschungsfragen vielfältige Zieldimensionen einbezogen werden. Im gesamten Wissenschaftssystem bedarf es einer institutionellen Stärkung der Vielfalt von Zieldimensionen, zum Beispiel bei der Forschungsförderung, in der disziplinären Kultur, bei den Berufungspolitiken und in Akkreditierungsverfahren, aber auch in den öffentlichen Diskursen. Sinnvoll wären auch neue Foren von Akteuren aus Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, um adäquate Zieldimensionen in einzelnen Wissenschaftsbereichen zu diskutieren und festzulegen.
  • Wissenschaftskommunikation ist als integrativer Bestandteil von wissenschaftlicher Arbeit zu verstehen und sollte deshalb aufgewertet und ausgebaut werden. Zur Verantwortung der Wissenschaft gehören auch der Transfer in die Gesellschaft und die direkte Kommunikation mit den Bürger*innen.
  • Im Wissenschaftssystem muss ein Anreizsystem geschaffen werden, damit Wissenschaftler*innen zur Kommunikation mit der Gesellschaft motiviert werden. Auch Kommunikationsaufgaben sollten im Wissenschaftssystem Reputation bringen.
  • Wissenschaftler*innen müssen für Kommunikationsaufgaben die erforderlichen Ressourcen erhalten, vor allem Zeit bzw. eine Entlastung von anderen Aufgaben.
  • Es sollten öffentlich finanzierte Plattformen geschaffen werden, auf denen sich Wissenschaftler*innen mit kontroversen Auffassungen über ein Thema austauschen und verständigen können.
  • Die Bewertung von Forschungsleistungen sollte stärker qualitative Kriterien einbeziehen und nicht vorrangig auf quantitativen Kriterien wie Publikationszahlen, Zitierhäufigkeit etc. beruhen. Es sollten verschiedene Parameter berücksichtigt werden, z.B. auch Kommunikationsleistungen und die gesellschaftliche Relevanz der Forschung. Das Indikatorensystem zur Bewertung der Qualität von Forschung und Forschenden muss weiterentwickelt werden.
  • Englisch als Wissenschaftssprache ist unerlässlich, um den internationalen Austausch und grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Wissenschaftler*innen zu ermöglichen. Darüber hinaus sollte die Vielfalt der Landessprachen in der Wissenschaft erhalten bleiben, insbesondere in der Lehre und bei der Wissenschaftskommunikation (Vermittlung von Wissenschaft, Citizen Science).
  • Hochschulen sollten ein emanzipatives Bildungsideal verfolgen. Neben der Vermittlung von Fachwissen und wissenschaftlichen Methoden sollte auch die Entwicklung der Persönlichkeit und die gesellschaftliche Verantwortung der Studierenden eine wichtige Rolle spielen. Ziel sollten reflektierte, mündige und verantwortungsvolle Bürger*innen sein.
  • Bei der Besetzung von Stellen bzw. bei Berufungen an Hochschulen sollte Vielfalt stärker berücksichtigt werden. Auch Quoten könnten hier eine Lösung sein (z.B. im Hinblick auf Frauen und Arbeiterkinder). Das Wissenschaftssystem muss inklusiver werden.
  • Um ihre Verantwortung für den wissenschaftlichen Nachwuchs wahrzunehmen, sollten Hochschulen die Beschäftigungsbedingungen und Karriereperspektiven für Doktorand*innen und Postdocs verbessern. Dazu gehört, mehr unbefristete Stellen zu schaffen und eine größere Planbarkeit von Karrierewegen zu ermöglichen, etwa durch die Ausweitung von Tenure-Track-Modellen und eine kontinuierliche Personalentwicklung an Hochschulen.
  • Das Wissenschaftssystem sollte mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten für Studierende und Nachwuchswissenschaftler*innen bieten, z.B. durch die Einrichtung von Promovierendenräten.

3. Finanzierung von Wissenschaft

  • Wissenschaft muss ihre Verantwortung unabhängig wahrnehmen können. Dafür braucht es eine ausreichende und verlässliche Grundfinanzierung sowie eine Pluralität von Mittelgebern. Die Abhängigkeit von Drittmitteln sollte reduziert werden bzw. nach Möglichkeit erst gar nicht entstehen.
  • Projektmittel sollten dazu dienen, zusätzliche Impulse in das Wissenschaftssystem zu geben. Dauerhafte Zusatzaufgaben an Hochschulen erfordern langfristige Finanzierungsmodelle, die eine Kontinuität der Problembearbeitung und nachhaltige Strukturen ermöglichen.
  • Über eine entsprechende Förderpolitik sollte dafür gesorgt werden, dass Bürger*innen stärker und langfristig in wissenschaftliche Prozesse eingebunden werden.
  • Es braucht mehr Raum für themenoffene und innovative Forschung – was in den Förderprogrammen entsprechend berücksichtigt werden sollte.
  • Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung sollten gleichermaßen gefördert werden, da beide gebraucht werden, um gesellschaftlichen Fortschritt zu befördern.