Fachpublikation

Algorithmen und Aristoteles. Auf der Suche nach der richtigen Bildung für das digitale Zeitalter

Thema

Folgen der Digitalisierung für Bildung und Arbeitswelt

Herausgeberschaft

Mark Speich/Sebastian Gallander

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2016

Stiftungsengagement

Vodafone Stiftung Deutschland

Literaturangabe

Mark Speich/Sebastian Gallander (Hrsg.): Algorithmen und Aristoteles. Auf der Suche nach der richtigen Bildung für das digitale Zeitalter. Eine Publikation der Vodafone Stiftung Deutschland. Berlin 2016.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Der Sammelband vereint Beiträge von internationalen und deutschen Expertinnen und Experten verschiedener Tätigkeitsfelder, die sich aus unterschiedlicher fachlicher Perspektive mit den Folgen der Digitalisierung auf Arbeitswelt und Bildung beschäftigen. Darüber hinaus werden Kernbegriffe des digitalen Zeitalters erklärt.

Zentrale Fragen:

  • Wie werden aktuelle technologische Entwicklungen (zum Beispiel künstliche Intelligenz, Robotik, Mensch-Maschine-Kommunikation) die wirtschaftliche Entwicklung und Bildungsprozesse in Zukunft beeinflussen?
  • Wie können die Menschen in Deutschland auf diese Herausforderung so vorbereitet werden, dass die Digitalisierung nicht zu einer größeren sozialen Spaltung führt?

Wichtige Ergebnisse

Im Fazit wird konstatiert, dass technologische Kompetenzen vom versierten Umgang mit digitalen Medien bis hin zum Grundverständnis für Algorithmen immer wichtiger werden. Bildung müsse dem Menschen aber zugleich stärker all das vermitteln, was kein Computer leisten kann, etwa geistige Offenheit, Orientierungswissen, kritisches Urteilsvermögen, Selbstdisziplin, Kreativität und Empathie.

Thesen zum Verhältnis Digitalisierung und (Aus-)Bildung:

1. Der Wandel der Berufe durch die digitale Transformation werde zwar fundamental sein, doch würden vermutlich nicht vorrangig ganze Jobsparten und Tätigkeiten wegfallen, sondern nur Teilaspekte des Berufs verändert bzw. automatisiert werden, etwa assistierende Roboter für Chirurginnen und Chirurgen oder automatisierte Analysetools in der Buchhaltung eingeführt werden.

2. Die digitale Transformation entwerte zwar Wissen und stärke Kompetenzen, doch sei die Formel zu vereinfachend, man müsse zunehmend weniger wissen, sondern vielmehr in der Lage sein, „das Wissen über einen Gegenstand im Netz zu finden“ und „richtig einzuordnen“. Schon die Prozesse des Findens und Einordnens seien maßgeblich von Wissen und weiteren persönlichen Kompetenzen geprägt (Verstehenskontext der Information, Beziehung der Information zu anderen Informationen). Wissen und Kompetenz bildeten somit weiterhin einen unauflösbaren Zusammenhang.

3. Der effektive Umgang mit digitalen Technologien setze in Ausbildungsberufen nicht zwingend ein informationstechnologisches Grundverständnis ihrer Funktionsweise voraus. So könnten beispielsweise in handwerklichen Berufen Tätige die digitalen Systeme auch ohne entsprechende Kenntnisse nutzen. Deshalb sollten in der beruflichen Aus- und Weiterbildung nicht Kenntnisse der Programmiersprachen vermittelt werden, sondern Kompetenzen, um die eigenen handwerklichen Fähigkeiten mit den digitalen Möglichkeiten kombinieren zu können.

4. MINT- oder Coding-Bildungsinitiativen seien wichtig, um viele junge Menschen für Berufskarrieren als Ingenieurinnen und Ingenieure oder Informatikerinnen und Informatiker zu motivieren, doch würden diese bei Weitem nicht ausreichen, um die Versprechen der digitalen Transformation einzulösen. Es werde weiterhin das Fachwissen anderer Berufssparten notwendig sein, etwa um Tätigkeiten zu übernehmen, die nicht von Maschinen verrichtet werden können, oder um zu beurteilen, ob die Maschinen richtig arbeiten oder eine Software für bestimmte Bereiche (weiter)entwickelt werden muss.

5. Die digitale Spaltung sei letztlich keine Frage des Zugangs zu Technologie, sondern des Umgangs mit Technologie. Die eigentliche Spaltung verlaufe zum einen zwischen jenen, die den digitalen Möglichkeiten ohnmächtig ausgeliefert sind, und jenen, die zu Momenten des Innehaltens und der Konzentration auf das Analoge angeleitet werden (beispielsweise zum Klavierspiel oder zur Buchlektüre), und zum anderen zwischen jenen, die aufgrund ihres Wissens mit der Informationsfülle des Netzes produktiv umgehen können, und jenen, die in dieser Fülle untergehen, weil ihnen die ordnenden Kriterien fehlen. Noch stärker als die Schule seien die Eltern die prägende Kraft dieser sozialen Scheidelinien.

Am Ende werden Konsequenzen für ein zukunftsoffenes Bildungsprogramm formuliert:

Im Rückgriff auf das Bildungskonzept von Aristoteles sollte es bei Bildung um die innere Befreiung des Menschen zum eigenständigen Denken und verantwortlichen Handeln einschließlich der Förderung des kritischen Denkens gehen. Diese „allgemeine Menschenbildung“ sollte allen Menschen offenstehen.

Mit der Digitalisierung könnte dieses Ziel nun schneller und besser erreicht werden. Allerdings müssten dafür engagierte und didaktisch versierte Lehrende und Pädagoginnen und Pädagogen mit Expertinnen und Experten der Datenanalyse, der Virtual-Reality und des Programmierens zusammenwirken. Diese sollten gemeinsam ein – an den Bildungszielen der Kultusministerkonferenz (KMK) orientiertes – digitales Bildungsangebot für alle Jahrgangsstufen entwickeln, das jedem Schüler und jeder Schülerin zugänglich ist und von jedem Lehrenden eingesetzt werden kann.

Der Vorteil der digitalen Möglichkeiten könnte darin liegen, dass die Lehrenden dadurch mehr Zeit für die individuelle Arbeit mit einzelnen Schülerinnen und Schülern gewinnen und deren Entwicklung besser fördern können. Damit würden sie für das „Wesentliche“ ihrer beruflichen Tätigkeit befreit. Digitalisierung könne somit ein Programm der „allgemeinen Menschenbildung“ unterstützen, das nicht einer Elite vorbehalten ist. Der Erfolg sei aber wesentlich davon abhängig, dass die Eltern eingebunden und die Lehrenden entsprechend ausgebildet werden. Zudem sei das Programm unbedingt über die allgemeinbildende Schule hinaus zu erweitern.

Da Eltern eine entscheidende Rolle bei Haltungs- und Einstellungsfragen gegenüber der Nutzung digitaler Technologie bei ihren Kindern haben, sei eine professionelle schulische Elternarbeit wichtig, die auch systematischer Gegenstand des Lehramtsstudiums sein sollte. Die Lehrenden müssten ein Bewusstsein für den Kern ihres Berufes entwickeln: Die Notwendigkeit guter Pädagogik bleibe auch im Zuge digitaler Möglichkeiten bestehen und müsse möglichst vielen Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht werden. Der Erfolg dieses Bemühens hänge von der Qualität der Lehrenden ab (Studienentscheidung geeigneter Persönlichkeiten, Qualität der Lehreraus- und -fortbildung, Qualität innovativer Unterrichtsmodelle).

Der Anwendungsbereich der allgemeinen Menschenbildung sollte nicht zu eng gefasst werden: Die Aspekte humanistischer Bildung – etwa Haltung, Charakter und Herzensbildung, selbstständiges Denken, kritisches Hinterfragen und Empathie – sollten auch tragende Prinzipien eines Berufsschulcurriculums sein.

Auf jeder Stufe des Bildungssystems könnte die Entwicklung individueller Chancen vorangebracht werden, wenn die digitalen Instrumente auf geeignete Weise in ein traditionelles Bildungsprogramm eingebettet werden, das sich nicht unkritisch den Möglichkeiten der Digitalisierung überlässt, sondern am Kern abendländischer Bildungsüberzeugung festhält: der bestmöglichen Entwicklung der in einem Menschen angelegten Möglichkeiten. Dieses Ziel für möglichst alle zu verwirklichen, sollte auch unter den Bedingungen der Digitalisierung zentrales Ziel und große Herausforderung bleiben.