Studie mit Handlungsempfehlungen

Außerschulische Nachhilfe

Thema

Auswirkungen der kommerziellen Nachhilfe auf Bildungschancen

Herausgeberschaft

Hans-Böckler-Stiftung

Autoren/Autorinnen

Klaus Birkelbach/Rolf Dobischat/Birte Dobischat

Erscheinungsort

Düsseldorf

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Hans-Böckler-Stiftung

Literaturangabe

Klaus Birkelbach/Rolf Dobischat/Birte Dobischat: Außerschulische Nachhilfe. Ein prosperierender Bildungsmarkt im Spannungsfeld zwischen kommerziellen und öffentlichen Interessen (= Study der Forschungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 348). Düsseldorf 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Die vorliegende Studie betrachtet den expandierenden Markt für kommerzielle, privat finanzierte Nachhilfe aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Ziel ist es, ein möglichst umfassendes Bild dieses Bereiches des deutschen Bildungssystems zu gewinnen. Dabei konzentriert sich die Studie vor allem auf den Bereich der privat bezahlten außerschulischen Nachhilfe.

Neben einer Beschreibung der Entwicklung des Angebotes und der Nachfrage stehen folgende Fragen im Zentrum der Untersuchung:

  • Welche strukturellen Entwicklungen auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene begünstigen die Expansion des Nachhilfemarktes?
  • Welche Gründe haben Eltern, neben den Angeboten der staatlichen Schulen, zusätzlich private Nachhilfe für ihre Kinder zu finanzieren?
  • Wirken die aus der Bildungsforschung bekannten Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit auch im Bereich der kommerziellen Nachhilfe oder kann Nachhilfe bestehende soziale Ungleichheiten kompensieren?
  • In welchem Verhältnis steht der Sektor der marktförmig organisierten kommerziellen Nachhilfe zum staatlich organisierten Schulsystem?
  • Wie ist es um die Qualität der privaten Nachhilfe bestellt und welche Mechanismen der Qualitätskontrolle existieren?

Die Publikation enthält Basisinformationen über das System Nachhilfe, insbesondere den spezifischen Bereich der kommerziellen, privat finanzierten Nachhilfe. Dargestellt werden aber auch die Ergebnisse empirischer Analysen zur Entwicklung des Marktes und zur Nutzung des Angebotes sowie zur sozialen Selektivität von kommerzieller Nachhilfe. In den Literaturreviews werden Daten aus verschiedenen Quellen verwendet: Daten aus einer von den Autoren durchgeführten Nachhilfeanbieterbefragung, einer repräsentativen Erhebung des Deutschen Jugendinstituts („Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“) sowie – für historische Vergleiche – aus den Jahren 1969/70.

Auf dieser Basis beschäftigen sich die Wissenschaftler mit unterschiedlichen Aspekten der Qualität des Angebots. Anschließend wird thematisiert, dass so gut wie keine staatliche Kontrolle und Aufsicht des Nachhilfeangebots und seiner Bildungsträger gegeben ist und die kommerzielle Nachhilfe somit als „reale Parallelwelt“ mit nur geringen Bezugspunkten zum staatlichen Bildungswesen existiert.

Im Schlussteil der Studie wird unter Qualitätsaspekten diskutiert, ob die „Parallelwelt Nachhilfe“ nicht auch rechtlich wieder stärker an das öffentliche Bildungswesen gekoppelt werden sollte. Zudem werden weitere empirische Forschungsbedarfe als Grundlage für wirkungsvolles staatliches Handeln skizziert.

Die Studie wurde durchgeführt von den Bildungsforschern Prof. Dr. Klaus Birkelbach, Prof. Dr. Rolf Dobischat (Universität Duisburg-Essen) sowie Birte Dobischat (Dozentin in der Erwachsenenbildung).

Wichtige Ergebnisse

1. Zusammenfassung der Ergebnisse

In den letzten Jahrzehnten hat die Zahl der Kinder, die Nachhilfestunden ergänzend zum Schulunterricht nehmen, immer mehr zugenommen. Viele Kinder erhalten Unterstützung in kommerziellen Instituten oder von anderen Schülerinnen und Schülern, weil sie Probleme mit den Hausaufgaben und Klausuren haben oder die Eltern nicht mit den Noten zufrieden sind. Dabei werden längst nicht mehr nur die Versetzungsgefährdeten zur Nachhilfe angemeldet, sondern immer häufiger auch Schülerinnen und Schüler mit mittleren Leistungen („Dreier“-Kandidaten).

Warum wird Nachhilfe in Anspruch genommen? Zu unterscheiden ist zwischen

  • schülerzentrierten Ursachen (z.B. individuelle Entwicklungs- und Lernstörungen, Schließung von Wissenslücken, Notenverbesserung, Gewährleistung einer Versetzung, Vorbereitung auf eine schulische Übergangspassage),
  • schulsystembezogenen Gründen (z.B. Verdichtung der Leistungsansprüche bei Verkürzung der Schulzeit G8, Einführung von Leistungsstandards, Beschleunigung des Lerntempos, Leistungs- und Selektionsdruck, fachwissenschaftliche und didaktisch-methodische Kompetenzdefizite beim Lehrpersonal),
  • elternbezogenen Motiven (z.B. Unzufriedenheit mit dem Leistungsgefüge der Schule, Option auf einen sozialen Aufstieg bzw. auf die Gefahrenabwehr sozialer Diskriminierung).

Der Nachhilfemarkt ist groß: Nach Schätzungen werden jedes Jahr mehr als eine Milliarde Euro für Nachhilfestunden ausgegeben. Ein wichtiger Grund für die wachsende Nachfrage nach privatem Förderunterricht sind die gestiegenen Bildungsaspirationen der Eltern. Dies sei vor allem eine Folge des Pfads der Höherqualifizierung, also der Wichtigkeit höherwertiger schulischer und beruflicher Bildungszertifikate, so die Autoren. Eine hohe Qualifizierung entscheide – auch angesichts der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt – immer mehr über die Chancen, eine gut bezahlte und dauerhafte Beschäftigung zu finden. Eine höhere Bildung solle inzwischen nicht nur als Barriere gegen sozialen Abstieg wirken, sondern den Kindern auch Wettbewerbsvorteile am Arbeitsmarkt verschaffen.

Hohe Bildungsaspirationen seien mittlerweile nicht mehr nur vorrangig in den bildungsaffinen, einkommensstarken Bevölkerungsschichten mit höheren Bildungsabschlüssen zu finden, sondern auch in bildungsferneren und einkommensschwächeren Schichten, die sich bemühen, ihren Kindern Nachhilfe zu ermöglichen, um auf diese Weise „Bildungsarmut“ zu vermeiden bzw. ihren Kindern Bildungschancen und damit Arbeits- und Lebenschancen zu eröffnen.

Die Autoren betonen, dass Nachhilfe – historisch betrachtet – als Instrument der Kompensation von Leistungsdefiziten eine lange Tradition hat. Durch den Privatisierungsschub im Bildungsbereich und flankiert durch Tendenzen der Internationalisierung habe die Nachhilfe aber aus der Peripherie des Bildungswesens heraustreten und sich als „unverzichtbares“ schulaffines Angebot etablieren können. Die Expansion des privaten Förderunterrichts sei auch darauf zurückzuführen, dass die Institution Schule ihr generelles Ziel, jedem Individuum die gleichen Bildungschancen als Grundlage für die Lebenschancen zu eröffnen, verfehlt habe. Im deutschen Bildungssystem zeigten sich hartnäckige soziale Disparitäten beim Zugang zu Bildungsprozessen. Auch die Umsetzung von Bildungsreformen in der jüngsten Vergangenheit, verknüpft mit Lernstress und Leistungsdruck infolge von Zeitverdichtungen bei erhöhtem Risiko eines frühzeitigen Scheiterns der Bildungskarriere, habe als Treibsatz für die Expansion der kommerziellen Nachhilfe gewirkt. Die Schule sei für viele Probleme und Defizite mitverantwortlich, die Nachhilfe erst als ein Lösungsmuster erforderlich macht.

Vor diesem Hintergrund konnte sich die außerschulische, privatfinanzierte, kommerzielle Nachhilfe das Feld erobern und die Basis für ein lukratives Geschäftsmodell entwickeln, das mittlerweile Milliardenumsätze in einem Wachstumsmarkt generiert.

Wie viele und welche Schülerinnen und Schüler nehmen privaten Förderunterricht?

Es gibt keine offizielle Nachhilfestatistik, doch werden in der Forschungsliteratur verschiedene Zahlen genannt: Je nach Studie und Definition bewegen sich die Angaben zwischen 6 und 27 Prozent aller Schülerinnen und Schüler.

Zudem zeigen sich bestimmte Tendenzen in Bezug auf die Altersklasse: Fünfzehnjährige nehmen Nachhilfe besonders häufig in Anspruch (laut einer neueren Untersuchung 29 Prozent), während bei Kindern der 1. Klasse privater Förderunterricht noch keine Rolle spielt; von den Achtjährigen nehmen bereits 6 Prozent Nachhilfestunden.

Ein weiteres Ergebnis ist, dass Kinder aus wohlhabenden Familien häufiger Nachhilfeunterricht nehmen als Kinder aus armen Elternhäusern: In Haushalten, in denen weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens zur Verfügung steht, haben etwa 13 Prozent der Kinder Nachhilfeunterricht, in der Mittelschicht sind es etwa 20 Prozent der Kinder, und in Familien, in denen mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens verfügbar ist, nimmt fast jedes dritte Kind privaten Förderunterricht.

Eine Gruppe, die von Nachhilfe besonders selten profitiert, sind Kinder aus Elternhäusern mit Migrationsgeschichte.

Welche Effekte hat Nachhilfe auf die Bildungschancen?

Die Wissenschaftler ziehen ein ernüchterndes Fazit: Kompensatorische Effekte durch Nachhilfe seien nur gering ausgeprägt, wenn es darum ginge, mehr Bildungschancen zu realisieren. Vielmehr bestätige sich die bereits aus früheren Studien abgeleitete These, dass kommerzielle Nachhilfe soziale Ungleichheiten tendenziell verstärkt.

Studien hätten gezeigt, dass eine gelingende Bildungsbiografie und das Einmünden ins Beschäftigungssystem nach wie vor auch davon abhängt, inwieweit Nachhilfe – vornehmlich durch die kommerziell-organisierte – in Anspruch genommen wird. Die Inanspruchnahme werde jedoch unabhängig von den Bildungsaspirationen durch soziale Hintergrundvariablen determiniert. Schülerinnen und Schüler aus bildungsferneren und einkommensschwächeren Schichten nehmen seltener Nachhilfe wahr und seien somit – bedingt durch die Funktionsmängel im öffentlichen Bildungssystem – beim Bildungszugang und beim Zugang zum Arbeitsmarkt benachteiligt. Mit dem Bildungshintergrund und dem sozio-ökonomischen Status des Elternhauses werde eine Wirkungskette mit nachhaltigen negativen Folgen entfaltet.

2. Politische Handlungsempfehlungen

Um die unerwünschten sozialen Konsequenzen der „Parallelwelt Nachhilfe“ zu korrigieren, sollte nach Ansicht der Bildungsforscher geprüft werden, ob für den Bereich der kommerziellen Nachhilfe – analog den Privatschulen (als Ergänzungs- oder Ersatzschulen) – eine stärkere staatliche Aufsichts- und Kontrollfunktion etabliert werden sollte. Es könnte sinnvoll sein, für das Geschäftsfeld der kommerziellen Nachhilfe formalisierte Verfahren zu entwickeln, die auf eine öffentlich verantwortete Genehmigung, Kontrolle und Qualitätssicherung zielen. Diese Verfahren könnten durch entsprechende Regularien in den Länderschulgesetzen verankert werden. Das öffentliche Gut Bildung müsse auch im speziellen Fall der Nachhilfe aus der rein privatwirtschaftlichen Orientierung und den damit verbundenen Partikularinteressen herausgelöst und sukzessiv in die Mitgestaltungssphäre staatlicher Schulaufsicht zurückgeführt werden.

Auch müssten die erheblichen Forschungsdefizite beseitigt werden: Notwendig seien weitere Studien zum kommerziellen Nachhilfemarkt und seinen Auswirkungen, insbesondere, inwieweit kommerzielle Nachhilfe die Strukturen sozialer Ungleichheit verfestigt und mit welche Instrumenten hier gegengesteuert werden kann.

In diesem Zusammenhang verweisen die Wissenschaftler darauf, dass der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UNHRC) im Juli 2016 einstimmig eine Resolution verabschiedet hat, die die 47 Mitgliedsstaaten zu Maßnahmen aufruft, die privaten Bildungsträger stärker zu regulieren und die staatlichen Bildungsinvestitionen deutlich zu erhöhen, um einer weiteren Privatisierung im Bildungswesen mit dem Ziel entgegenzutreten, die rasante und unkontrollierte Expansion privater Bildungsinstitutionen – und die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf das Menschenrecht auf Bildung – zu stoppen.

Letztlich müsse es darum gehen, dass alle Kinder mit Förderbedarf auch die notwendige Unterstützung bekommen, damit sie gleiche Chancen beim Zugang zu Bildung und Arbeit erhalten.