HandlungsempfehlungenPositionspapier

Blindflug beenden und stark aus der Krise kommen

Thema

Bildungschancen für benachteiligte Kinder und Jugendliche in der Corona-Pandemie

Herausgeberschaft

Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.)

Autoren/Autorinnen

Hans-Jürgen Kuhn/Michael Voges

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2021

Stiftungsengagement

Heinrich-Böll-Stiftung

Literaturangabe

Hans-Jürgen Kuhn/Michael Voges: Blindflug beenden und stark aus der Krise kommen. Bildungschancen für Benachteiligte jetzt sichern! Hg. v. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, März 2021.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt sind die Schul- und Kitaschließungen im Zuge der Corona-Pandemie im März 2020 sowie die Tatsache, dass die meisten Schüler*innen in den letzten Monaten überwiegend zu Hause gelernt haben. Ein Jahr mit Öffnungen und Schließungen, Präsenz- und Fernunterricht, Hybrid- und Wechselunterricht hätte erhebliche Auswirkungen für Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Eltern und Familien gehabt. Negative Folgen seien zum Beispiel Lernrückstände, fehlende soziale Kontakte, psychische und gesundheitliche Belastungen. Die ohnehin schon sozial und ökonomisch Benachteiligten hätten besonders viel verloren.

Festgestellt wird, dass das deutsche Bildungssystem schon vor der Corona-Pandemie ein Gerechtigkeitsproblem hatte. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie würden diese Ungleichheiten weiter verschärfen, weil durch den Wegfall der täglichen Unterrichtssituation das Lern- und Sozialverhalten vieler Kinder und Jugendlichen zusätzlich beeinträchtigt wurde, was fatale Folgen gehabt habe. Um zu verhindern, dass die Chancenungleichheit noch größer wird und sich auf lange Sicht verfestigt, müsse zügig gehandelt und der „Blindflug“ beendet werden: Es sei notwendig, Klarheit über die Auswirkungen der pandemiebedingten Schulschließungen zu gewinnen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Das vorliegende Papier richtet sich in erster Linie an die bildungspolitisch Verantwortlichen in Bund und Ländern und fokussiert auf Monitoring, Diagnostik und kompensatorische Förderung, für die es dringend politischer Entscheidungen bedürfe.

Der Text beruht auf Diskussionen der Fokusgruppe Bildungspolitik der Heinrich-Böll-Stiftung.

Wichtige Ergebnisse

Erkenntnisse und Empfehlungen

1. Dringend notwendig seien gesicherte Erkenntnisse über die kognitiven, sozialen und psychischen Auswirkungen der pandemiebedingten Schulschließungen.

Bisher gebe es in Deutschland keine gesicherten Kenntnisse über die Auswirkungen der Pandemie auf die Schüler*innen der verschiedenen Altersgruppen, zum Beispiel über kognitive Lernlücken und soziale Defizite, die Folgen von veränderten Alltagsstrukturen, die Brüche in Beziehungen zwischen Schüler*innen und Lehrkräften und der Schüler*innen untereinander, über Abbrüche in Lernverläufen, extremen Medienkonsum, Bewegungsmangel, problematische Ernährung, den Verlust von Selbstvertrauen und zunehmende Isolation.

Schule sei immer Lern- und Lebensort mit vielfältigen Sozialisationseffekten, die nicht einfach zuhause zu kompensiert werden könnten. Deshalb bedürfe es systematischer und repräsentativer Untersuchungen der verschiedenen Alterskohorten in Bezug auf die Folgen der Pandemie. Wenig zielführend seien weitreichende Lösungen zur Behebung der Krisenfolgen, für deren Wirksamkeit keine belastbaren empirischen Befunde vorlägen, zum Beispiel die (freiwillige oder angeordnete) Wiederholung des Schuljahres, verpflichtender Samstagsunterricht, eine Kürzung der Sommerferien oder die Verlängerung des Schuljahres.

Notwendig wäre vielmehr ein umfangreiches und koordiniertes Forschungsprogramm, das systematisch und längsschnittlich die verschiedenen Aspekte der kognitiven und sozialen Kompetenzentwicklung unter Berücksichtigung von Herkunftsmerkmalen der Schüler*innen sowie der sozioökonomischen Lage der Familien in den Blick nimmt und versucht, Gelingensbedingungen zum Abbau von Bildungsungleichheit zu identifizieren.

Deutschland verfüge über exzellente wissenschaftliche Einrichtungen mit einer Expertise in Large Scale Assessments, z.B.

  • das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB),
  • das DIPF – Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation,
  • das IPN – Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik,
  • das Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien (ZIB) und
  • das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (NEPS-Netzwerk).

Die Kompetenzen dieser Einrichtungen müssten mit Blick auf ein konzertiertes, strategisches Handeln gebündelt und genutzt werden, damit Bund und Länder Steuerungs- und Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfen können.

Um die Schulen nicht mit vielen unkoordinierten Einzeluntersuchungen zu überlasten, sei es wichtig, die empirische und pädagogische Forschungskompetenz in Deutschland gebündelt und koordiniert einzusetzen. Bund, Länder und ggf. auch die im Bildungsbereich tätigen Stiftungen sollten diese Fragen miteinander abstimmen und zügig Entscheidungen treffen.

2. Es brauche dringend diagnosebasierte, wissenschaftlich fundierte Förderkonzepte und auf dieser Grundlage verbindliche zusätzliche Fördermaßnahmen.

Für eine verlässliche Beschreibung und Bewertung der Folgen der Pandemie im Bildungsbereich sei Bildungsmonitoring auf der Ebene von länderrepräsentativen Studien wichtig. Zugleich müssten die nächsten Wochen und Monate dazu genutzt werden, entstandene Lernlücken mit diagnosebasierten Fördermaßnahmen zu verringern und die Schüler*innen und ihre Familien psychisch und sozial zu stabilisieren.

Eine Förderung sollte immer auf der Basis einer Diagnostik stattfinden. Nur dann könnten die Angebote die von Defiziten betroffenen Schüler*innen tatsächlich erreichen und ihnen eine passgenaue, verbindliche Unterstützung ermöglichen.

Um Umfang und Inhalt der tatsächlichen Defizite durch die Pandemie zu erfassen, müssten die aktuellen Lernstände systematisch erfasst werden. Zentraler Maßstab sollten dabei die in den Bildungsstandards beschriebenen sprachlichen und mathematischen Kompetenzen sein. Daher sollten in den ersten vier Wochen des neuen Schuljahres bundesweit vorhandene und ergänzend länderspezifische Instrumente eingesetzt werden, um für alle Schüler*innen eine verlässliche Einschätzung zu möglichen Förderbedarfen zu gewinnen.

Monitoring-Studien würden allerdings noch keine Hinweise auf individuelle Förderbedarfe geben. Dazu brauche es andere Instrumente und Verfahren einer aussagekräftigen Individualdiagnostik. Zusätzlich sollten alle Länder in einer konzertierten Aktion die zahlreichen vorhandenen, qualitätsgesicherten Diagnoseinstrumente zur klassenbezogenen oder individuellen Lernstandsdiagnostik für andere Jahrgangsstufen und Fächer auf einer digitalen Plattform für alle Schulen in Deutschland verfügbar zu machen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) sollte diese Verfahren und Instrumente unter Einbeziehung wissenschaftlicher Einrichtungen (z.B. dem DIPF) mit fundierten Empfehlungen für einen sinnvollen Einsatz in der Schule versehen und schnellstmöglich auf einer bundesweiten Plattform wie „Wir lernen online“ (WLO) oder „Mundo“ bereitstellen, damit sie schnell und unbürokratisch genutzt werden können.

Entscheidend sei es, im Anschluss an die Diagnose wissenschaftlich fundierte Förderkonzepte und -maßnahmen umzusetzen. Zusätzliche Angebote, im Rahmen des Ganztags, aber auch an Samstagen oder in den Ferien, müssten allerdings geeignet und nachweisbar wirksam sein, um festgestellten Lernlücken und Versäumnissen entgegenzuwirken. Dazu seienin den letzten Jahren im Rahmen diverser Forschungsprogramme wirksame Förderansätze identifiziert und erfolgreich evaluiert worden.

Es sei wichtig, dass identifizierte Förderbedarfe für Risikogruppen von den Schüler*innen auch wahrgenommen werden. Dazu sollten in Lern- und Fördervereinbarungen zwischen Schule und Schüler*innen unter Einbeziehung der Sorgeberechtigten additive individuelle Fördermaßnahmen vereinbart werden. Die öffentlichen Schulen allein können dies nicht auffangen, die Angebote privater Nachhilfeinstitutionen und freier Jugendhilfeträger verfügten über die notwendige Expertise, Infrastruktur und Ressourcen und sollten regional in entsprechende für die Nutzer*innen kostenlose Angebote einbezogen werden. Die Lernförderung über das Bildungs- und teilhabepaket (BuT) biete hier eine gute Ressource, die bedarfsgerecht ausgeweitet werden müsste. Bei Bedarf müssten Möglichkeiten gefunden werden, den Eltern, die BuT-Lernangebote für ihre Kinder nutzen wollen, aber nicht zum Kreis der Anspruchsberechtigten gehören, die Selbstzahlerkosten zu ersetzen.

Viele Bundesländer würden bereits heute zusätzliche kostenlose Bildungsangebote in den Ferien unterbreiten. Das sei sinnvoll und sollte in allen Ländern stattfinden. Dabei gehe es um mehr als das Bearbeiten von inhaltlichen Defiziten. Ausgeweitete Lernzeiten müssten für das Lernen auf allen Ebenen genutzt werden. Für viele Schüler*innen sei der Erfolg bei der kognitiven Leistungssteigerung davon abhängig, dass ihr Selbstvertrauen, ihre Lernmotivation und ihre Lernkompetenzen gestärkt werden. Bei der Förderung der Basiskompetenzen sollte fachliches Lernen mit überfachlichen Zielen verbunden werden, die Stärkung der personalen und sozialen Kompetenzen müsse im Mittelpunkt stehen, um wieder Freude am Lernen zu ermöglichen und Selbstvertrauen aufzubauen.

Gerade in der Pandemie sei deutlich geworden, wie entscheidend Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme für die eigenen Lernfortschritte sind. Sie könnten nicht bei allen Schüler*innen vorausgesetzt werden und entwickelten sich nicht mit einmaligen Ferienkursen. Dazu brauche es ein längerfristiges Konzept für eine veränderte Lernkultur, gerade auch im Regelunterricht.

3. Es bedürfe innovativer Strategien und zusätzlicher Mittel, um stark aus der Krise zu kommen.

Die Zeit bis zum Beginn des kommenden Schuljahres müsse gut genutzt werden, um längerfristige Maßnahmen umszusetzen. Es sei sehr wichtig, vor allem diejenigen Kinder und Jugendlichen, die am stärksten von der Krise getroffen wurden, aufzufangen, zu unterstützen und ihnen wieder eine Perspektive zu geben. Es müsse jedem Kind, jedem Jugendlichen, im kommenden Schuljahr gelingen, seine Bildungsbiografie erfolgreich fortzusetzen, sowohl bei den Lerninhalten als auch bei kognitiven und sozialen Entwicklungen.

Um die pandemiebedingten Defizite auszugleichen und die Bildungschancen der Benachteiligten nachhaltig zu verbessern, sei ein passgenaues und angemessen ausgestattetes Förderprogramm von Bund und Ländern unerlässlich. Das Recht auf Bildung erfordere einen bundesweit geltenden Anspruch auf Mittel aus dieser zusätzlichen Förderung. Die Verteilung dieser Mittel sollte nicht nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel (Steueraufkommen und Einwohner*innenzahl) erfolgen, sondern anhand von Sozial-Indizes, die sich an der Zahl der Bedürftigsten orientieren. Als Zeithorizont für zusätzliche stützende Maßnahmen sei dabei von mindestens zwei Schuljahren ausgehen. Dies müsse auch gut kommuniziert werden, um Eltern und Schüler*innen zu vermitteln, dass eine Schuljahreswiederholung nur in Ausnahmefällen sinnvoll ist. Bei der Konzeption und Begleitung des Förderprogramms sollte die Expertise der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz genutzt werden.

Die jetzt zu entwickelnden Konzepte und Maßnahmen sollten auch künftig eine Basis dafür bilden, Bildungsbenachteiligungen früh zu erkennen und ihnen kompensatorisch entgegenzuwirken. Dazu gehörten vor allem deutlich mehr – der Rechtsanspruch auf Ganztag in der Grundschule müsse zügig beschlossen und umgesetzt werden – und qualitativ gute Ganztagsangebote, die genügend Gelegenheiten zur Förderung von Lernerfolgen benachteiligter Kinder und Jugendlicher bieten, aber auch auf Dauer angelegte Tutorenprogramme, Buddykonzepte, Lernpatenmodelle usw.

Schließlich könnten die angestrebten Ziele durch eine aktive Einbeziehung des Sozialraumes über Bildungsbündnisse mit den dort vorhandenen Akteuren der Zivilgesellschaft und die Nutzung der vor allem in städtischen Räumen vorhandenen vielfältigen Lernorte (z.B. Jugendverkehrsschulen, Gartenarbeitsschulen, Museen, Bibliotheken, außerschulische Lernorte, Schullandheime) schneller und nachhaltig erreicht werden. So könnte in der Krise auch eine Chance liegen, das Schulsystem in Deutschland sozial gerechter weiterzuentwickeln.