Projektbericht

Der Pakt für Pirmasens. Eine ganze Stadt schafft bessere Bildungschancen für ihre Kinder

Thema

Kommunale Bildungslandschaft

Herausgeberschaft

Bertelsmann Stiftung (Hg.)

Autoren/Autorinnen

Andrea Walter/Sophie Burkard

Erscheinungsort

Gütersloh

Erscheinungsjahr

2018

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung

Literaturangabe

Andrea Walter/Sophie Burkard: Der Pakt für Pirmasens. Eine ganze Stadt schafft bessere Bildungschancen für ihre Kinder. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2018.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt des Netzwerks „Pakt für Pirmasens“ war, die Bildungschancen der sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen in Pirmasens zu verbessern – einer Stadt mit 40.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, die mit den negativen Folgen des Strukturwandels zu kämpfen hatte. In einem Netzwerk schlossen sich zahlreiche engagierte Akteure aus Kommunalverwaltung, Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft zusammen, um die staatlichen Fördermaßnahmen in diesem Bereich zu ergänzen.

2018 existierte der Pakt seit zehn Jahren, in denen das Netzwerk nach eigenen Angaben etwa 1.500 Kinder und Jugendliche in Pirmasens erreicht hat. Bis dahin waren mehr als 25 Projekte zur Förderung von Sprachkenntnissen, sozialer Kompetenz und gesellschaftlicher Teilhabe initiiert und von mehr als 50 beteiligten Organisationen und über 200 freiwillig Engagierten durchgeführt worden. Koordiniert wurde der Pakt inzwischen von vier hauptamtlich Beschäftigten der Kommunalverwaltung.  

Seit 2015 begleitet die Bertelsmann Stiftung mit dem Projektteam „Synergien vor Ort“ den Pakt von Pirmasens, um Aufschluss über folgende Fragen zu erhalten:

  • Wie ist das Netzwerk organisiert? Warum wurde ein Netzwerk als Lösungsansatz gewählt?
  • Welche Chancen und Herausforderungen birgt die Zusammenarbeit zwischen Akteuren aus Kommunalverwaltung, Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft, zwischen Hauptamtlichen und freiwillig Engagierten?

Nach ersten Erkenntnissen wurde deutlich, dass das Netzwerkformat des Paktes, das allen Interessierten offensteht, auch für andere Kommunen und andere soziale Herausforderungen Vorbild sein könnte, da drei Aspekte auf neue Weise kombiniert werden:

  • eine aus Verwaltungsmitteln geförderte Koordination,
  • eine flexible Nutzung von Spendenmitteln und
  • die Möglichkeit der Mitwirkung freiwillig Engagierter.  

Die Publikation stellt genauer dar, wie der Pakt funktioniert, das heißt wie die Akteure und Prozesse ineinandergreifen, wofür finanzielle Mittel konkret genutzt werden und warum ein Netzwerkformat gewählt wurde. Auch soll Wissen darüber vermittelt werden, wie durch dieses Netzwerk die Bildungschancen der sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen erhöht und die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen vor Ort stärker gewährleistet werden können. Darüber hinaus gibt es Einblicke in den Entstehungshintergrund des Paktes und den Umgang der beteiligten Akteure mit dem Thema Wirkung sowie einen Ausblick in die Zukunft.

Wichtige Ergebnisse

Wichtige Ergebnisse

Entstehungsgeschichte: Warum wurde der Pakt gebildet und ein Netzwerkansatz gewählt?

Im Jahr 2008 hatte der damalige Oberbürgermeister von Pirmasens, Dr. Bernhard Matheis, die Idee zum Pakt. Er berichtet in der Publikation über die Entstehungsgeschichte: Zwar habe es in Pirmasens vielfältige Initiativen im Bereich Bildung, Erziehung und Jugend gegeben, die Hilfen für Problemlagen für die vielen Kinder aus sozialbedürftigen und bildungsfernen Familien anboten (z.B. Schulen, Kitas, Jugendarbeit, Kinderschutzinitiativen), doch fehlte es an der Verknüpfung dieser Angebote im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes, der den Lebensweg dieser Kinder nachhaltig begleitet. Das Netzwerk sollte dazu beitragen, die verschiedenen vorhandenen Angebote zu verknüpfen und neue Angebote nach Bedarf zu organisieren. Zudem wollte er die Stadtgesellschaft dazu motivieren, Mitverantwortung für diese Kinder zu übernehmen. Immer mehr Akteure vor Ort reagierten auf diesen Appell und das Netzwerk wurde stetig größer. Es entwickelte sich eine basisdemokratische Organisationsstruktur im Rahmen eines „Runden Tisches“ mit großer Hilfsbereitschaft der Akteure und Institutionen. Zudem beteiligten sich die Pirmasenser Bürgerinnen und Bürger mit Spenden.

Das Netzwerk ist so stark angewachsen, dass es inzwischen durch hauptamtliche Mitarbeitende aus der Verwaltung koordiniert wird. Aus Sicht des Bürgermeisters war das Netzwerk des Paktes nach zehn Jahren, im Jahr 2018, in der Stadtgesellschaft etabliert und hoch anerkannt, steht aber vor der Herausforderung, sich kontinuierlich mit neuen Projekten und Kooperationen auf neue Entwicklungen einstellen (z.B. die Integration von Geflüchteten oder neue Anforderungen an Qualifikationen im Zuge des Wandels der Arbeitswelt).

Funktionsweise: Wie arbeitet der Pakt?

1. Ziele und Zielgruppe

Ziele: Bildungschancen für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus mit verschiedenen Angeboten ergänzend zu staatlicher Unterstützung verbessern und ihre gesellschaftliche Teilhabe fördern.

Zielgruppe: Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche und ihre Familien („Lebensweg-Ansatz“: Kontakt von Geburt an mit einem „Willkommenspaket“), ergänzt durch geflüchtete Familien 

2. Ansatz

Der Pakt wird gebildet von einem stadtweiten Netzwerk aus Hauptamtlichen und freiwillig Engagierten, getragen von Akteuren aus Verwaltung, Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Er setzt dort an, wo die staatliche Unterstützung für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche an Grenzen stößt. Es werden ergänzende Angebote zu den bestehenden staatlichen Pflichtleistungen bereitgestellt.

Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sollen auf ihrem Weg ins Leben begleitet werden: Kinder und Jugendliche benötigen an unterschiedlichen Stationen ihres Lebensweges Unterstützung, zum Beispiel in der Schule oder beim Übergang von der Schule in den Beruf. Die am Pakt beteiligten Akteure bieten deshalb Projekte an, die Kinder und Jugendliche an unterschiedlichen Stellen auf ihrem Lebensweg unterstützen (u.a. Nachhilfe, Berufsorientierung). Pro Jahr werden in diesem Rahmen etwa fünf bis zehn Projekte angestoßen, die der Pakt mit Spendengeldern fördert.

Das Koordinierungsbüro ist die zentrale Anlaufstelle bzw. die Schaltzentrale des Paktes. Hier werden Bedarfe und Angebote verknüpft, Projekte koordiniert und die unterschiedlichen Akteure aus Zivilgesellschaft, Verwaltung und Wirtschaft vernetzt. Der Pakt richtet sich an alle Bürgerinnen und Bürger und organisierten Akteure in Pirmasens. 2018 engagierten sich Vereine, Verbände, Initiativen, Träger der freien Jugend- bzw. Wohlfahrtspflege, Kirchen und religiöse Einrichtungen, Einrichtungen der Straßen- und Schulsozialarbeit sowie Wirtschaftsunternehmen, aber auch Privatpersonen.

3. Leistungen des Paktes

Es werden verschiedene zusätzliche Leistungen angeboten, unter anderem

  • Beratungs- und Begleitungsangebote, zum Beispiel Unterstützung beim Ausfüllen von Anträgen und Formularen, längerfristige Familien- und Lebenswegbegleitung durch gezielte Unterstützung im Alltag,
  • Bildungsangebote zu den Schwerpunkten Schule und Lernen, aber auch zum Übergang von Schule und Beruf (u.a. Hausaufgabenhilfe, interkulturelle Lernförderung, Förderung von Lese- und Schreibkompetenz, Praktikumspatenschaften),
  • Integrative Angebote mit den Schwerpunkten Sport, Gesundheit, musikalische Bildung (u.a. Kinderfreizeiten in den Ferien, Teilnahme an Musik- und Sportvereinen, Fahrradwerkstatt),
  • Weitere Angebote der Akteure, zum Beispiel „Sonnendiplom“ (Sensibilisierung für das Thema Energie),
  • Kleiderkammer mit Kleiderspenden.

Die Beschäftigten des Koordinierungsbüros agieren als niedrigschwellige Ansprechpersonen für benachteiligte Familien und ihre Fragen. Als Mittler hat das Büro die Aufgabe, an die zuständigen Verwaltungsstellen zu verweisen, sofern staatliche Leistungen in Anspruch genommen werden können, oder Familien auf Angebote von Dritten aufmerksam zu machen (z.B. Erziehungsberatungsstellen, Schuldnerberatung).

Struktur: Wie ist der Pakt organisiert?

1. Ressourcen

Die Ressourcen des Koordinierungsbüros basieren auf vier Säulen:

  • Haushaltsmittel (Stellen, Büroräume)
  • Geldspenden (Projekte)
  • Infrastruktur und Sachmittel (z.B. Büromaterial)
  • Engagement (Unterstützung bei der Umsetzung der Projekte)

2. Beteiligte und Entscheidungsstrukturen – zwischen Steuerung und Beteiligung

Gemäß seinem Verständnis als Netzwerk von Hauptamtlichen und freiwillig Engagierten hat sich der Pakt bewusst gegen eine Institutionalisierung, z.B. in Form einer Vereinsgründung entschieden. Mit diesem informellen Konstrukt ist die Prämisse verbunden, schnell und unbürokratisch handeln zu können.

Relevant für die Organisation des Paktes sind drei Säulen: das Koordinierungsbüro, der Förderausschuss und der Runde Tisch.

Wirkung: Wie erreicht der Pakt sein Ziel?

Übergreifendes Ziel des Paktes:

  • Die Bildungs- und Teilhabechancen der sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen sollen verbessert werden – von der Geburt bis zum Ausbildungsstart.

Konkrete Ziele für einzelnen Zielgruppen:

  • Kinder und Jugendliche sollen bei der Bewältigung von Schulproblemen, bei der Entwicklung eigener Berufsvorstellungen und eines persönlichen Lebensentwurfs unterstützt werden. Die Angebote sollen ihnen ermöglichen, Erfolgserlebnisse in Schule, Familie und Freundeskreis zu erfahren.
  • Eltern sollen durch die Angebote des Paktes in ihrer Erziehungskompetenz gestärkt und bei speziellen Problemlagen unterstützt werden.
  • Die Kommune soll dadurch die Möglichkeit haben, Lücken im System schneller zu erkennen und einen besseren Zugang (im Sinne eines positiveren Images) zu Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien zu erhalten.

Die Aktivitäten des Paktes sollen nicht allein auf die Zielgruppen einwirken, sondern auch sich auch auf die Aktivitäten von Schulen, der Fachkräfte aus der Sozialarbeit, den Freundeskreis etc. auswirken.

Betont wird, dass die Wirkung des Paktes nicht allein an Kennzahlen gemessen werden kann. Doch zeigte sich in Pirmasens in Bezug auf die Zahlen eine positive Entwicklung: So haben sich seit dem Start des Paktes bei Kindern unter 15 Jahren die Transferleistungen um zehn Prozent reduziert. Seit 2016 steigen die Zahlen allerdings wieder an, was auf mögliche externe Entwicklungen zurückgeführt werden können, zum Beispiel auf den verstärkten Zuzug von Geflüchteten seit 2015.

Nach Ansicht der Bertelsmann Stiftung bedarf es bei der Wirkungsmessung eines qualitativen Zugangs. Deshalb hat sie eine Befragung in Auftrag gegeben, die zu dem Ergebnis kam, dass es für die Beteiligten des Paktes vor allem wichtig ist, dass sie selbst durch ihre Mitwirkung bzw. ihr freiwilliges Engagement selbstwirksam werden und aktiv dazu beitragen, die Situation der Kinder und Jugendlichen in ihrer Stadt zum Positiven zu verändern. 85 Prozent der befragten freiwillig Engagierten gaben an, mit ihrem Engagement dabei mitzuhelfen, die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in Pirmasens zu verbessern. Auch die Ergebnisse eines Fokusgruppeninterviews mit elf Kindern und Jugendlichen zwischen zehn und 19 Jahren, die Angebote des Paktes wahrgenommen haben, zeigen, dass die Kinder und Jugendlichen die Angebote des Paktes als wirksam wahrnehmen. Sie sind der Auffassung, der Pakt habe ihnen bei der Bewältigung ihrer Probleme geholfen, wie zum Beispiel bei schlechten Noten oder Stress mit Lehrkräften.

Neben dem Wirkungsverständnis der Beteiligten selbst kann nach Auffassung der Autorinnen auch die mediale Berichterstattung des Paktes als Indikator dafür dienen, wie der Pakt von außen wahrgenommen wird. Der Ansatz und die Projekte des Paktes erzielten nicht nur in Lokalmedien Aufmerksamkeit, sie würden auch oft von überregionalen Medien aufgegriffen. Zudem erfahre der Pakt kontinuierlich seit seinem Bestehen Aufmerksamkeit und Anerkennung von außen – als Preisträger unterschiedlicher Institutionen (u.a. Auszeichnung von der Initiative „Deutschland – Land der Ideen 2011, Engagementpreis 2012, Deutscher Nachhaltigkeitspreis 2013).