Fachpublikation

Einen guten Ganztag auf der Grundlage eines integrierten Bildungsverständnisses schaffen

Thema

Potenziale guter Ganztagsbildung für mehr Chancengerechtigkeit

Herausgeberschaft

AWO Bundesverband/Bertelsmann Stiftung/Robert Bosch Stiftung/Stiftung Mercator (Hg.)

Autoren/Autorinnen

Ludger Pesch/Falk Radisch

Erscheinungsort

Berlin/Gütersloh/Stuttgart/Essen

Erscheinungsjahr

2020

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung/Robert Bosch Stiftung/Stiftung Mercator

Literaturangabe

Ludger Pesch/Falk Radisch: Einen guten Ganztag auf der Grundlage eines integrierten Bildungsverständnisses schaffen! Hg. v. AWO Bundesverband/Bertelsmann Stiftung/Robert Bosch Stiftung/Stiftung Mercator. Berlin/Gütersloh/Stuttgart/Essen 2020.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass die Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag 2018 die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz für Kinder im Grundschulalter ab dem Jahr 2025 angekündigt hat, der auch im Sozialgesetzbuch VIII verankert werden soll. Das aufgelegte Investitionspaket des Bundes in Höhe von zwei Milliarden Euro zur Förderung des Ausbaus von Betreuungsplätzen für Grundschulkinder wurde durch das verabschiedete Ganztagsfinanzierungsgesetz bis 2028 gesichert.

Flankierend zu diesem Gesetzesvorhaben haben Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Bertelsmann Stiftung, Robert Bosch Stiftung und Stiftung Mercator das Arbeitsbündnis „Rechtsanspruch guter Ganztag“ gegründet und eine Runde von Expertinnen und Experten aus Politik, Verwaltung und Verbänden initiiert. Diese Runde arbeitet seit Herbst 2018 in einem vertraulichen Rahmen in Workshops zusammen, um maßgebliche offene Fragen, die für eine qualitätsvolle Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz beantwortet werden müssen, zu identifizieren. Die vier Organisationen wollen damit einen Beitrag dazu leisten, das Potenzial guter Ganztagsangebote auf mehr Chancengerechtigkeit und damit auf bessere Entwicklungs- und Teilhabechancen von Kindern besser auszuschöpfen.

Das vorliegende Papier wurde von Prof. Ludger Pesch (Professor für Elementarpädagogik/Erziehungswissenschaft an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin) im Juni 2019 der Runde von Expert*innen vorgestellt. Die daraus resultierenden Diskussionen und erhaltenen Rückmeldungen sind in das Ergebnispapier einbezogen, ebenso ergänzende Vorträge, zum Beispiel von Oggi Enderlein (Initiative für Große Kinder e.V.), Stephan Wasmuth (Bundeselternverband), Bettina Arnoldt (Deutsches Jugendinstitut) und Natalie Fischer (Universität Kassel). Damit sollten auch die Perspektiven von Kindern, Eltern, aber auch von Wissenschaft und Schule berücksichtigt werden. Für die vorliegende Schlussfassung wurde das Papier vom Autor gemeinsam mit Prof. Dr. Falk Radisch überarbeitet und um Hinweise aus einer aktuellen Studie von Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann (Alice Salomon Hochschule Berlin) und Bastian Walther (wissenschaftlicher Mitarbeiter am DESI-Institut) zur Perspektive Großer Kinder auf einen guten Ganztag ergänzt.

Wichtige Ergebnisse

Wichtige Ergebnisse

Bedürfnisse von Großen Kindern (6 bis 13 Jahre):

  • Große Bedeutung der Freundschaft mit Gleichaltrigen
  • Selbstbestimmte Bewegung und Geschicklichkeit
  • Erkundung der Welt und Kompetenzzuwachs

Perspektive der Eltern von Großen Kindern:

  • Interesse an Wohlbefinden, Schulerfolg und Betreuung
  • Interesse an Teilhabe

Ein integriertes Bildungsverständnis sollte die Leitlinie der institutionellen Entwicklung der Grundschule sein.

Handlungsempfehlungen:

  • Erweiterung des traditionellen Auftrags: Schule sollte heute auch Bildungs- und Erziehungsaufgaben übernehmen, die früher in erster Linie der Familie zukamen.
  • Neue Herausforderungen für Schule: Schule müsse ihre Zielbestimmungen, ihre Arbeitsroutinen, den Umgang mit Raum, Zeit und Personal und ihr Verhältnis zum Kind eventuell neu bestimmen; es sollte ein gemeinsames Standortkonzept mit der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt und umgesetzt werden.
  • Verbindliche Vorgaben für die notwendigen Veränderungen: Schule sollte bereits existierende Vorgaben kennen und sich bei konzeptionellen Weiterentwicklungen darauf beziehen.
  • Unterschied zur traditionellen Halbtagsschule: Das Ganztagsangebot unterscheide sich durch sein erweitertes Aufgabenfeld, einen erweiterten Verantwortungsumfang, die multiprofessionelle und institutionenübergreifende Zusammenarbeit, andere Raumstrukturen und Raumnutzungen und ggfs. andere Zeitstrukturen von der herkömmlichen Halbtagsschule. Damit ändere sich grundlegend der Charakter der Institution: Sie müsse jetzt prinzipiell als Lern- und Lebensort verstanden und so konzipiert werden, dass sich die Kinder und auch die Erwachsenen dort viele Stunden lang wohlfühlen und produktiv miteinander leben, arbeiten und lernen können.
  • Wohlbefinden als Qualitätskriterium und psychologische Grundbedürfnisse: Wohlbefinden, Motivation und Schulerfolg würden sich bei meisten Kindern in hohem Maß bedingen; deshalb sei es wichtig, dass die psychologischen Grundbedürfnisse des Menschen befriedigt werden und die Möglichkeit von Selbststeuerung und Selbstbestimmung, von sozialer Verbundenheit, von Kompetenz und Selbstwirksamkeit erlebt werden kann.
  • UN-Kinderrechtskonvention als Grundlage: Eine für jede Ganztagsentwicklung ergiebige Basis sei die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK), die aus kinderrechtlicher Perspektive notwendige Aspekte formuliert (Vorrang des Kindeswohls, Chancengleichheit, Berücksichtigung des Kindeswillens).
  • Mitgestaltung der Kinder und Ausdifferenzierung: Das Bildungsverständnis des Ganztags sollte die Kinder auf allen Ebenen systematisch einbeziehen und einen Ort der Demokratie und Partizipation bilden. Alle am Ganztag Beteiligten müssten sich darüber verständigen, wie sie das Angebot mit Blick auf die gesamte Altersspanne der 6- bis 10/12-jährigen Großen Kinder ausdifferenzieren, um deren dynamischem Entwicklungsbedarf gerecht werden zu können.
  • Aufsicht als Beitrag der Erziehung zur Selbstständigkeit: Die Aufsichtspflicht sollte als als Teil eines Erziehungsauftrags verstanden werden, der die Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt stellt und darauf achtet, Selbstständigkeit nicht zu behindern.
  • Bewegungsinteressen berücksichtigen: Selbstbestimmte Bewegungsspiele und Geschicklichkeitsübungen förderten Willensstärke, Konzentrations- und Ausdauerfähigkeit und sollten deshalb selbstverständlicher Bestandteil des Ganztags sein.

Die Vorschläge sollten nicht nur in Bezug auf die Weiterentwicklung der Grundschule, sondern auch in Bezug auf traditionelle Angebotsformen im Kinder- und Jugendhilfebereich gelesen werden.

Die Autoren formulieren verschiedene Leitsätze zur Bildungskultur, zum Lebensweltbezug und zur Einrichtungskultur einer Schule, die im Folgenden wiedergegeben werden.

Leitsätze zur Bildungskultur: Lernen in Sinnzusammenhängen und Einladung zur Eigentätigkeit

1. Grundprinzip des Ganztages ist eine Lernorientierung, die neben formalen auch non-formale und informelle Lernprozesse als gleichwertig anerkennt, mit bedenkt und im Gesamtkonzept berücksichtigt.

2. In Konzeption und Praxis bezieht sich das Ganztagsangebot auf einen kompetenzorientierten Bildungsbegriff. Kinder erwerben ihr Wissen in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Faktoren möglichst selbstständig und aktiv.

3. Möglichkeiten der Flexibilisierung von Stundentafeln und themenbezogene fächerübergreifende Projektarbeit werden sinnvoll genutzt. Die Individualisierung von Lernwegen wird als wichtiges didaktisches Prinzip anerkannt und umgesetzt. Um unterschiedlichen Lernbedarfen gerecht zu werden, werden Lern- und Förderpläne für jedes Kind aufgestellt, in denen die Stärken der Kinder im Vordergrund stehen. Kern der Lern- und Förderpläne sind herausfordernde und realistische Lernziele für jeden Einzelnen.

4. Im Ganztagsangebot finden sich Formen und Inhalte eines fächerübergreifenden Lernangebotes und eines flexiblen Tagesablaufes, der individuelle und soziale Bedürfnisse der Kinder ebenso berücksichtigt wie die institutionellen und regionalen Voraussetzungen am jeweiligen Standort. Im Rahmen einer ganztägigen Konzeption vereinbaren und formulieren die Partner gemeinsame Ziele.

5. Der verbindende und verpflichtende Teil des Ganztags umfasst mehr als die obligatorische Stundentafel. Um Rhythmisierung zu ermöglichen, sollen im verpflichtenden Teil auch Lernangebote außerhalb der Stundentafel und andere (bildungsbezogene) Angebote Platz finden, die nicht direkt auf curriculares Lernen abzielen.

6. Um einen echten Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung zu ermöglichen, müssen auch Zeiträume vorgesehen werden, die Raum für ungestaltete und ungeplante Aktivitäten in der Eigenverantwortung der Kinder ermöglichen. Diese Zeiträume werden von der Schule auch als bildungsrelevante Zeiten verstanden und wertgeschätzt.

7. Ziele und Formen der Angebote werden auf innere und äußere Stimmigkeit im Hinblick auf die vereinbarten Ziele und die internen Bezüge hin reflektiert. Die Einrichtung versteht sich als lernende Organisation im Prozess laufender Qualitätsentwicklung; Erwachsene verstehen sich als Lernvorbilder und Moderatorinnen und Moderatoren für Teamarbeit.

8. Das Ganztagsangebot ist eine offene Organisation, das die Chancen nutzt, welche die Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten des räumlichen und personalen Umfelds bieten, indem es sie aktiv aufsucht und in das gesamte Lernen und Leben einbezieht

Vier Leitsätze zum Lebensweltbezug

1. Jede Ganztagskonzeption basiert auf einer kontinuierlich aktualisierten Analyse der Lebenswelt der Kinder und ihrer Familien, auf die sich das Angebotsprofil und -konzept konkret bezieht. Das Ganztagsangebot ist somit nicht zufällig entstanden, sondern zeigt sich als Ergebnis planvoller Überlegungen.

2. Die am Ganztagsangebot beteiligten Partnerinnen und Partner entwickeln in Kooperation einen stimmigen Rahmen, in dem Ziele, Angebote, Mittel und das personale Angebot konzeptionell aufeinander bezogen sind. Individualisierung und soziale Bezüge werden gleichermaßen gefördert.

3. Die Problematik und die Chancen von lebensphasenbezogenen wie alltäglichen Übergängen zwischen den Lebensräumen und Institutionen werden beachtet und unter Berücksichtigung des sozialen Kontextes konzeptionell aufgegriffen. Die Übergangsphasen werden so gestaltet, dass in einem positiven lebenswelt- und sozialräumlichen Bezug die Kompetenzen der Kinder entwickelt werden.

4. Das Ganztagsangebot zielt auf eine verlässliche Unterstützung der Familien, ihrer Bedürfnisse und Aufgaben.

Zwei Leitsätze zur Einrichtungskultur

1. Das Ganztagsangebot berücksichtigt lebenskulturelle Aspekte und verfolgt das Leitbild eines freundlichen Lern- und Lebensraumes, der die vielfältigen und individuell unterschiedlichen Bedürfnisse des „ganzen“ Menschen auf Beteiligung, Autonomie und Wirksamkeitserleben berücksichtigt.

2. Ganztagsangebote sind nicht nur „Häuser für Kinder“, sondern auch „Häuser der Kinder“. Daher wird der Entwicklung von Beziehungen unter Gleichaltrigen und der Partizipation eine hohe Bedeutung beigemessen.