Studie mit Handlungsempfehlungen

Erfolgsfaktor Resilienz

Thema

Chancengerechtigkeit im Schulsystem

Herausgeberschaft

Vodafone Stiftung Deutschland

Autoren/Autorinnen

Andreas Schäfer/Helmut Hochschild

Erscheinungsort

Düsseldorf

Erscheinungsjahr

2018

Stiftungsengagement

Vodafone Stiftung Deutschland

Literaturangabe

Erfolgsfaktor Resilienz. Warum manche Jugendliche trotz schwieriger Startbedingungen in der Schule erfolgreich sind – und wie Schulerfolg auch bei allen anderen Schülerinnen und Schülern gefördert werden kann. Eine PISA-Sonderauswertung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Kooperation mit der Vodafone Stiftung Deutschland. Mit einem Praxisbericht des Schulleiters und Lehrerausbilders Helmut Hochschild. Düsseldorf 2018.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass Bildung eine entscheidende Zukunftsressource unserer Gesellschaft ist und deshalb allen Kindern und Jugendlichen – unabhängig von ihrer sozioökonomischen Herkunft – gleichermaßen zugänglich sein sollte. Die Veröffentlichung der ersten Internationalen Schulleistungsstudie PISA aus dem Jahr 2000 hatte jedoch gezeigt, dass in Deutschland die Leistungen der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler unterhalb des OECD-Durchschnitt lagen. Noch schlechter fiel das Ergebnis bei der Bildungsgerechtigkeit aus: In kaum einem anderen OECD-Land war der Schulerfolg so stark von der sozialen Herkunft abhängig wie in Deutschland.

Dieser Befund erschütterte das Bildungssystem und zog ein Bündel an Reformmaßnahmen nach sich. Diese zielten vor allem auf die Erhöhung der Sprach- und Lesekompetenz, die Förderung bildungsbenachteiligter Kinder, die Weiterentwicklung und Qualitätssicherheit des Unterrichts sowie den Ausbau des außerschulischen Angebots. Hinzu kam der Ausbau der Ganztagsschulen und die Einführung von Bildungsstandards und nationaler Vergleichsarbeiten. Zahlreiche Bundesländer überführten das dreigliedrige Schulsystem aus Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien in ein zweigliedriges System aus Gesamt- oder Sekundarschulen und Gymnasien und erreichten damit eine stärkere soziale Durchmischung an den Schulen.

Wichtige Ergebnisse

Ergebnisse der Studie

1. Deutschland hat sich in Bezug auf Chancengleichheit verbessert und liegt beim Anteil resilienter Schülerinnen und Schüler über dem OECD-Schnitt.

Es wird festgestellt, dass sich das Kompetenzniveau der Schülerinnen und Schüler in Deutschland mittlerweile deutlich verbessert hat und in allen drei PISA-Kompetenzbereichen (Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften) über dem OECD-Durchschnitt liegt. Auch bei der Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem ist eine positive Entwicklung festzustellen. Besonders positiv erweist sich die Entwicklung beim Anteil „resilienter“ Schülerinnen und Schüler, die trotz ihres ungünstigen sozioökonomischen Hintergrunds im PISA-Test solide Leistungen zeigen (mindestens Kompetenzstufe drei erreichten). „Resilienz“ bedeutet im Kontext der Studie, dass diese Kinder und Jugendlichen die Fähigkeit haben, trotz sozialer Nachteile ein gewisses Kompetenzniveau zu erreichen und somit die Voraussetzung für eine aktive gesellschaftliche Teilhabe und lebenslanges Lernen zu erwerben.

2. In Deutschland hat der Anteil resilienter Schülerinnen und Schüler überdurchschnittlich stark zugenommen.

Im Jahr 2006 zeigte nur ein Viertel der benachteiligten Schülerinnen und Schüler solide Leistungen in der PISA-Studie, während das 2015 schon bei einem Drittel dieser Kinder und Jugendlichen der Fall war. Der Anteil dieser Schülerinnen und Schüler ist in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt so stark gewachsen wie in kaum einem anderen OECD-Land.

3. Die Chancengerechtigkeit in Deutschland hat sich erhöht, liegt aber noch unter dem OECD-Durchschnitt.

Auch wenn sich Deutschland beim Anteil resilienter Schülerinnen und Schüler deutlich verbessert hat und international inzwischen gut abschneidet, liegt das Land in puncto Chancengleichheit trotz einer positiven Entwicklung in den vergangenen Jahren noch immer unter dem OECD-Durchschnitt. So sind die Leistungsunterschiede zwischen sozial bessergestellten und sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern nach wie vor groß. Auch der statistische Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft ist noch immer sehr ausgeprägt.

4. Persönliche sowie schulische Faktoren beeinflussen die Resilienz bei Schülerinnen und Schülern.

Da Resilienz eine persönliche Eigenschaft ist, kann erwartet werden, dass individuelle Merkmale die Chancen auf Resilienz beeinflussen. In dieser Studie wurden Geschlecht, die zuhause gesprochene Sprache sowie der sozioökonomische Status (innerhalb der Gruppe der sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler) berücksichtigt. Für all diese Faktoren zeigte sich, dass sie Resilienz beeinflussen. So halbiert sich im OECD-Schnitt die Chance auf Resilienz, wenn zuhause nicht die Unterrichtssprache gesprochen wird. Gleichzeitig haben unter den sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern Mädchen eine leicht, aber signifikant geringere Chance auf Resilienz als Jungen. Ebenso beeinflusst die Ausprägung sozialer Benachteiligung die Chance auf Resilienz.

Fokus dieser Studie war jedoch, Faktoren auf Schulebene zu identifizieren, die zu einer höheren Resilienz unter sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern beitragen. In der Untersuchung wurden dafür das Schulklima, die Häufigkeit von Schulschwänzen, Aktivitäten außerhalb des Unterrichts, Klassengröße, Schulausstattung sowie der soziale Hintergrund von Mitschülerinnen und Mitschülern berücksichtigt.

5. Benachteiligte Schülerinnen und Schüler profitieren vom gemeinsamen Unterricht mit bessergestellten Schülerinnen und Schülern.

In der Auswertung zeigte sich, dass auf schulischer Ebene der mit Abstand bedeutendste Faktor für Resilienz die soziale Herkunft der Mitschülerinnen und Mitschüler ist. Mögliche Gründe sind, dass die Schülerinnen und Schüler sich innerhalb der Gruppe positiv beeinflussen und unterstützen, Schulen mit sozial bessergestellten Schülerinnen und Schülern auch besser ausgestattet oder für Lehrkräfte attraktiver sind und deshalb bessere Lehrkräfte bekommen, oder dass sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler an einer Schule mit günstigerem Sozialprofil von Lehrkräften und Eltern mehr Aufmerksamkeit erhalten und so ihre Fähigkeiten besser entwickeln können.

6. Eine bessere Ausstattung hilft, aber nur dann, wenn sie den Lernprozess effektiv verbessert und das Gemeinschaftsgefühl stärkt.

Laut Studie führen mehr Ressourcen und eine bessere Ausstattung nicht unbedingt zu einem höheren Anteil an resilienten Schülerinnen und Schülern. So gehen weder kleinere Klassengrößen noch eine bessere Ausstattung mit Computern mit besseren Leistungen bei sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern einher. Das bedeutet allerdings nicht, dass Investitionen keine Rolle spielen. Sie helfen sehr wohl, sofern sie den Lernprozess effektiv verbessern und im Dienste eines positiven Unterrichtsklimas stehen.

7. Ein positives Schulklima ist ein Schlüsselfaktor für Resilienz.

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die Bedeutung eines positiven Schul- und Unterrichtsklimas für Resilienz. Schulen, an denen Schülerinnen und Schüler den Unterricht als geordnet wahrnehmen, haben einen höheren Anteil resilienter Schülerinnen und Schüler. Dieser Befund zeigt sich im internationalen Vergleich wie auf nationaler Ebene.

8. Stabile Lehrerkollegien sind eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Schulklima.

Wenn ein gutes und geordnetes Schulklima eine wesentliche Voraussetzung für den Schulerfolg sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler ist, dann stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen ein solches Klima gedeihen kann. Die ausgewerteten Daten zeigen, dass Schülerinnen und Schüler das Schulklima eher positiv einschätzen, wenn die Fluktuation bei Lehrkräften gering ist. Mögliche Gründe sind, dass instabilen Lehrkörpern der Zusammenhalt und die gemeinsame Erfahrung fehlen, um auch unter schwierigen Bedingungen ein effektives Lernumfeld aufzubauen. Ein Weg, die Fluktuation bei Lehrkräften zu reduzieren, sind Mentorenprogramme, in denen erfahrene Lehrkräfte neuen Lehrerinnen und Lehrern helfen, schnell eine Bindung zu ihrer Schule zu entwickeln.

9. Ein motivierender Führungsstil der Schulleitung prägt das Schulklima positiv.

Die Studie zeigt auch, dass der Führungsstil der Schulleitung einen Beitrag zu einem positiven Schulklima leisten kann. Dazu gehört, dass die Schulleitung die Lehrkräfte in Entscheidungsprozesse einbezieht und versucht, einen Konsens aller Beteiligten zu erzielen, aber auch berufliche Fort- und Weiterbildungen unter den Lehrkräften anzuregen. Das Lernklima profitiert besonders, wenn es der Schulleitung gelingt, die Lehrkräfte von einer gemeinsamen Mission zu überzeugen und sie auf strategische Ziele und Ergebnisse auszurichten. Unterstützende Lehrer-Schüler-Verhältnisse, gute Beziehungen zwischen den Schülerinnen und Schülern und eine motivierende Schulleitung kennzeichnen somit Schulen mit einem positiven disziplinären Klima.

10. Ganztagsangebote können Resilienz fördern.

Aktivitäten jenseits des Unterrichts können das Engagement von Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern und ihren Familien fördern, ein Gefühl für die Zugehörigkeit zur Schule stärken und dadurch auch die Resilienz benachteiligter Schülerinnen und Schüler steigern. Dieser Zusammenhang besteht in Deutschland und einer Reihe weiterer Länder. Für Deutschland legt dieser Befund den Schluss nahe, dass Ganztagsschulen, die in der Lage sind, Angebote über den Unterricht hinaus zu machen, gut geeignet sind, Resilienz bei Schülerinnen und Schülern zu fördern.

 

Schlussfolgerungen

Zusammenfassend wird festgestellt, dass neben persönlichen Faktoren und der sozialen Mischung an der Schule das Schulklima einen entscheidenden Beitrag zur Resilienz sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler leistet. Dagegen hätten die Ressourcenausstattung und die Klassengröße kaum einen Einfluss. Zumindest in Deutschland würden sich Aktivitäten jenseits des Unterrichts, wie sie vor allem in Ganztagsschulen angeboten werden, einen positiven Effekt erzeugen. Ein positives Schulklima lässt sich nach den Ergebnissen der Studie vor allem durch zwei Aspekte unterstützen: eine geringe Fluktuation bei den Lehrkräften sowie einen Führungsstil der Schulleitung, der Lehrkräfte, Eltern und Schülerinnen und Schüler von einer gemeinsamen Mission überzeugt und alle bei der Schulentwicklung einbezieht.

Der Schulentwicklung komme eine zentrale Rolle bei der Förderung von Chancengerechtigkeit zu, so ein wesentliches Ergebnis. Der Blick in die Praxis – aus dem Erfahrungsbericht eines langjährigen Schulleiters, Schulrats und Lehrerausbilders – mache zudem deutlich, dass die Basis eines guten Schulklimas eine wertschätzende Kommunikation aller an Schule Beteiligten ist: Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften, Eltern und nicht-pädagogischem Personal. Neben der Unterrichtsverpflichtung sollten Lehrkräfte daher einen Teil ihres Stellenumfangs als Kommunikationszeiten anerkannt bekommen, um Elterngespräche, Beratungsgespräche mit Schülerinnen und Schülern sowie Teamplanung unter Kollegen und Kolleginnen dauerhaft zu stärken und zu verankern. Resilienz auf individueller Ebene könne sich darüber hinaus vor allem dann entwickeln, wenn Schülerinnen und Schüler anhand von projektorientierten und praxisnahen Lerninhalten die Anwendbarkeit von Gelerntem erleben, ihr eigenes Lernen steuern und so ihre eigene Selbstwirksamkeit erfahren können und motiviert werden. Nur so könnten sie stark und widerstandfähig für eine sich schnell verändernde digitale Arbeitswelt und Gesellschaft werden.