Studie mit Handlungsempfehlungen

Große Vielfalt, weniger Chancen

Thema

Bildungserfahrungen und Bildungsziele von Migrantinnen und Migranten in Deutschland

Herausgeberschaft

Stiftung Mercator/Vodafone Stiftung Deutschland

Autoren/Autorinnen

Heiner Barz/Katrin Barth/Meral Cerci-Thoms/Zeynep Dereköy/Mareike Först/Thi Thao Le/Igor Mitchnik

Erscheinungsort

Düsseldorf

Erscheinungsjahr

2015

Stiftungsengagement

Stiftung Mercator, Vodafone Stiftung Deutschland

Literaturangabe

Stiftung Mercator/Vodafone Stiftung Deutschland (Hrsg.): Große Vielfalt, weniger Chancen. Eine Studie über die Bildungserfahrungen und Bildungsziele von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Ergebnisse des Forschungsprojekts „Bildung, Milieu & Integration“ der Abteilung für Bildungsforschung und Bildungsmanagement an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Düsseldorf 2015.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Hintergrund ist, dass Menschen mit Migrationshintergrund keine einheitliche gesellschaftliche Gruppe in der deutschen Bevölkerung bilden. Um Integration zu befördern, ist es deshalb wichtig, die verschiedenen Bildungserfahrungen und Bildungsziele von Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu kennen.

Diesem Ziel widmete sich das zweijährige Forschungsprojekt „Bildung, Milieu & Migration“ der Abteilung für Bildungsforschung und Bildungsmanagement an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dabei wurden die unterschiedlichen Lebensweisen und Alltagskulturen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland systematisch untersucht, um einen differenzierten Einblick in ihre Bildungserfahrungen und Bildungsziele zu erhalten.

Dafür wurde erstmals das Gesellschaftsmodell der sozialen Migranten-Milieus des Heidelberger Sinus-Instituts für den Bildungsbereich aufgegriffen, um die unterschiedlich geprägten, milieuspezifischen Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland differenzierter in den Blick nehmen zu können. Das Modell unterscheidet dabei acht spezifische Migranten-Milieus: Adaptiv-bürgerliches Milieu, Statusorientiertes Milieu, Multikulturelles Performermilieu, Intellektuell-kosmopolitisches Milieu, Religiös-verwurzeltes Milieu, Traditionelles Arbeitermilieu, Entwurzeltes Milieu, Hedonistisch-subkulturelles Milieu.

Die Projektdaten beruhen auf einem zweistufigen Forschungsdesign, indem die Bildungsziele und -barrieren von Migrantinnen und Migranten zunächst mithilfe von 120 qualitativen Interviews exploriert und anschließend auf einer repräsentativen Basis mit 1.700 telefonischen Interviews quantifiziert wurden.

Die Darstellung der Studienergebnisse wird ergänzt durch Bild- und Videomaterial, das die Bildungsprofile der einzelnen Milieus veranschaulicht und ausgewählte Studienteilnehmende porträtiert.

Aus den Erkenntnissen über die verschiedenen Lebenswelten, Einstellungen und Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten unterschiedlichster Milieus in Deutschland können Schlussfolgerungen gezogen werden, wie Projekte und Ansätze im Bildungssystem für heterogene Zielgruppen künftig passgenauer gestaltet und so benachteiligte Kinder und Jugendliche noch gezielter gefördert werden können.

Wichtige Ergebnisse

Die Analyse zeigt anhand der acht Migranten-Milieus deutliche Unterschiede in den Bildungszielen von Migrantinnen und Migranten.

Deutlich wird, dass Eltern mit Migrationshintergrund insgesamt hohe Bildungsziele für ihre Kinder haben und viel Zeit und Ressourcen investieren, um die Schullaufbahn ihres Nachwuchses bestmöglich zu unterstützen. Oft scheitern sie und ihre Kinder jedoch an der mangelnden Verfügbarkeit von spezifischen Informations- und Unterstützungsangeboten und der noch immer ungenügenden interkulturellen Öffnung von Schule - so lautet ein zentrales Ergebnis der Studie.

Auch wenn im Grunde alle Eltern mit Migrationshintergrund den Bildungsaufstieg für ihre Kinder wollen, sind die Unterstützungsmöglichkeiten durch die Eltern doch stark milieuspezifisch ausgeprägt. So werden beispielsweise in den Milieus der bürgerlichen Mitte sämtliche Möglichkeiten der elterlichen Hilfe ausgeschöpft, unter anderem durch Hausaufgabenbetreuung, gemeinsames Lernen und Begleitung von Klassenfahrten. Dagegen sind die Unterstützungsmöglichkeiten von Eltern aus traditionsorientierten und prekären Milieus stark eingeschränkt, unter anderem durch einen niedrigen Bildungshintergrund, finanzielle Knappheit und fehlende Kenntnisse über das deutsche Bildungssystem.

Den hohen Bildungszielen von Migrantinnen und Migranten stehen noch immer zahlreiche Barrieren entgegen, mit denen Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern täglich zu kämpfen haben. Die Studie ergab, dass Eltern hier vornehmlich eine mangelnde interkulturelle Öffnung von Schulen in Deutschland bemängeln. Die überwiegende Mehrheit der befragten Eltern wünscht sich die Wertschätzung kultureller Vielfalt an Schulen, jedoch nur zwei Drittel geben an, dies im Schulalltag ihres Kindes auch zu beobachten.

Einen besonders hohen Stellenwert hat aus Sicht der Eltern zudem die interkulturelle Kompetenz der Lehrkräfte: 92 Prozent der Befragten erachten diese als wichtig, aber lediglich 60 Prozent erleben entsprechend aufgeschlossene und sensibilisierte Lehrkräfte an der Schule ihrer Kinder.

Die Mehrheit der befragten Eltern über alle Milieus hinweg begrüßt Angebote zur Elternbildung. Auch hier unterscheiden sich allerdings die Wünsche und Vorstellungen der Eltern milieuspezifisch. Die ambitionierteren Migrantenmilieus möchten mit ihrer eigenen Expertise zu den Themen Bildung und Erziehung einbezogen werden und sie sind besonders stark am Thema Studienmöglichkeiten interessiert: 86 Prozent wünschen sich eine Beratung zu speziellen Förder- und Stipendienprogrammen für junge Migrantinnen und Migranten, aber nur 20 Prozent geben an, dass diese an der Schule ihrer Kinder vorhanden ist.

In den traditionellen und sozial benachteiligten Milieus stoßen klassische Erziehungsratgeberthemen neben allgemeinen Informationen zum deutschen Schulsystem auf stärkere Resonanz. Kurse in der Herkunftssprache wünschen sich vor allem viele traditionsverwurzelte Eltern sowie Eltern aus den prekären Milieus.

Dabei artikulieren Eltern aller Milieus gleichermaßen großes Interesse an schulnahen Bildungsangeboten für Eltern. Eltern mit Migrationshintergrund wünschen sich dabei explizit keine separaten Veranstaltungen, sondern Angebote, die sich an alle Eltern richten.

Aus den Befunden der Studie werden folgende Handlungsempfehlungen abgeleitet:

Der Bildungsoptimismus der Eltern mit Migrationshintergrund sollte aufgegriffen werden: Es bedarf stärkerer Bemühungen um aktive Partizipation der Eltern mit Migrationshintergrund, aber auch der Elternverbände und der Migrantenselbstorganisationen.

Die interkulturelle Öffnung von Bildungseinrichtungen muss stärker realisiert werden, indem Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund gezielt gefördert werden, etwa durch speziellen Deutschunterricht oder spezielle Informationsangebote für Eltern mit Migrationshintergrund.

Die interkulturelle Elternbildung sollte forciert werden: Dazu gehört der Ausbau bestehender Beratungs- und Informationsangebote, aber auch die Entwicklung neuer, zielgruppenorientierter Formate. Leitbild sollte die kooperative Elternarbeit sein, die auf einem partnerschaftlichen, gleichberechtigten Zusammenwirken von Eltern und Lehrkräften basiert.

Milieuspezifische Präferenzen und Ressourcen in der interkulturellen Elternbildung sollten stärker berücksichtigt werden. Wichtig wäre die Konzeption und Umsetzung passgenauer Angebote in der Elternbildung, je nach milieuspezifischen Bedarfen, beispielsweise Formate des Empowerments, Kurse in der Herkunftssprache und Erziehungsratgeber.

Interkulturelle Elternbildung muss zielgruppenadäquat kommuniziert werden. Informations- und Kommunikationsangebote sollten milieuspezifisch ausgestaltet werden, zum Beispiel in den Bereichen klassische Informationsmedien, schulische Angebote, Internet.

Es müssten Schulentwicklungsprozesse angestoßen werden, die ein bewusstes Engagement für ein Klima der Wertschätzung kultureller Vielfalt einschließen, zum Beispiel durch ein Überprüfen des Schulalltags auf „monokulturelle“ Engführungen, das bewusste Nutzen der Ressourcen von Eltern mit Migrationshintergrund und eine Sensibilisierung der Lehrkräfte.

Es sollten Reformen in Schulverwaltung, Schulaufsicht, Lehrerbildung durchgeführt werden. Dazu gehören unter anderem neue Unterrichtsmaterialien, ein kontinuierliches Angebot einschlägiger Lehrerfortbildungen, die verstärkte Einstellung von Lehrkräften mit Migrationshintergrund und eine Vernetzung mit Migrantenorganisationen.

Zudem sollten Online-Informations- und Beratungsangebote zum Thema „Bildungsinformationen für Eltern“ zur Verfügung gestellt werden, zum Beispiel lokal angepasste Basisinformationen über Schulformen und Bildungswege, FAQ-Listen, Foren für den Erfahrungsaustausch, Verknüpfung mit sozialen Medien und die Präsentation von Vorbildern.