Studie mit Handlungsempfehlungen

Inklusion in Deutschland

Thema

Inklusive Schulen

Herausgeberschaft

Bertelsmann Stiftung

Autoren/Autorinnen

Klaus Klemm

Erscheinungsort

Gütersloh

Erscheinungsjahr

2015

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung

Literaturangabe

Klaus Klemm: Inklusion in Deutschland. Daten und Fakten. Hrsg. v. Bertelsmann Stiftung. Gütersloh 2015.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Deutschland hat im März 2009 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet und sich damit zum gemeinsamen Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Förderung bekannt. Die Regelungen der Konvention erhielten dadurch in Deutschland den Rang eines Bundesgesetzes, das durch eine Anpassung der Schulgesetze der Länder in innerstaatliches Recht überführt werden muss.

In der Publikation wird der von Deutschland eingeschlagene Weg hin zur inklusiven Schule nachgezeichnet, eingeordnet und problemorientiert diskutiert. Schließlich werden zentrale Probleme und Herausforderungen auf dem Weg zur inklusiven Schule aufgezeigt und Empfehlungen für weitere Entwicklungsschritte formuliert. Verfasst wurde die Publikation von dem Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher Prof. i.R. Dr. Klaus Klemm (Universität Duisburg-Essen).

Wichtige Ergebnisse

Ein wesentliches Ergebnis der Studie lautet, dass die Umsetzung schulischer Inklusion vorankommt, die Bundesländer sich dabei aber sehr unterschiedlich entwickeln. Inklusion auf Länderebene ähnele einem Flickenteppich, so der Autor.

Festgestellt wird, dass Deutschlands Schulen zunehmend inklusiv werden: Der Inklusionsanteil lag deutschlandweit im Schuljahr 2013/14 bei 31,4 Prozent. Dabei haben Länder, die den gemeinsamen Unterricht bereits seit längerer Zeit vorangetrieben haben, auf dem Weg zu einer inklusiven Schule Fortschritte gemacht: Bezogen auf alle Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 1 bis 10 lernen in Berlin nur noch 3,4 Prozent, in Schleswig-Holstein nur noch 2,4 Prozent und in Bremen nur noch 1,9 Prozent „exklusiv“ in Förderschulen – bei einem bundesweiten Durchschnittswert von 4,7 Prozent und deutlich höheren Anteilen an Förderschülerinnen und Förderschülern in manchen Ländern (beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt jeweils 6,8 Prozent).

Deutlich wird, dass die Bundesländer nach wie vor unterschiedliche Förderbegriffe und Diagnosestandards anwenden. Die Förderquoten – also die Quoten, die unabhängig vom Lernort den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit einem diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf angeben –, liegen in Deutschland zwischen 5,3 Prozent (Niedersachsen) und 10,8 Prozent (Mecklenburg-Vorpommern). Angesichts dessen muss die Verlässlichkeit der Diagnosen und somit die Vergleichbarkeit der ermittelten Förderquoten nach Ansicht des Autors infrage gestellt werden.

Es zeigt sich, dass die Chancen auf Teilhabe an inklusiver Bildung mit jedem (institutionellen) Übergang sinken. In Deutschland ist der Inklusionsgedanke in den einzelnen Bildungsstufen unterschiedlich verankert: So besuchten im Jahr 2013 67 Prozent der Kinder mit einem besonderen Förderbedarf integrative Kindertageseinrichtungen, aber nur 46,9 Prozent in den Grundschulen und 29,9 Prozent in Schulen der Sekundarstufe. 2012 haben lediglich 28 Prozent aller Abgängerinnen und Abgänger bzw. Absolventinnen und Absolventen einer Förderschule eine (wenn auch anspruchsreduzierte) Ausbildung begonnen. Die überwiegende Mehrheit wechselte in Bildungswege des Übergangssystems, das keine abschlussbezogene Ausbildung bietet.

Inklusion findet deutschlandweit schwerpunktmäßig in nur einigen Schulformen statt – nach der Grundschule offenbar nur noch selten. Dann trifft der inklusive Gedanke auf eine stark separierende Schulstruktur: Von den Schülerinnen und Schülern, die bundesweit derzeit in den Schulen der Sekundarstufen inklusiven Unterricht erhalten, lernen lediglich 10,5 Prozent in Realschulen und Gymnasien. Die anderen 89,5 Prozent besuchen die übrigen Bildungsgänge der Sekundarstufe. Der Autor resümiert, dass Inklusion deutschlandweit also gewissermaßen in der Exklusion stattfindet.

Mehr Inklusion führe zudem nicht gleichzeitig zu weniger Exklusion. So gehe der Schüleranteil an Förderschulen kaum zurück. In allen Bundesländern ist der Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen zwar gestiegen, doch geht dieser Anstieg in vielen Ländern bisher kaum oder gar nicht mit sinkenden Schüleranteilen an Förderschulen einher. Der Anstieg könne überwiegend damit erklärt werden, dass bei einer größeren Anzahl von Kindern und Jugendlichen ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wurde.

Die Bildungsforschung weist positive Effekte von Inklusion nach: Sowohl internationale Studien als auch Untersuchungen aus Deutschland belegen, dass der Besuch einer inklusiven Schule für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf förderlicher ist als der Besuch einer Förderschule. Dies gilt insbesondere für die Förderschwerpunkte „Lernen“, „Emotionale und soziale Entwicklung“ sowie „Sprache“.

Zudem beurteilt die Mehrzahl der Eltern inklusive Schulen positiver als nicht inklusive Schulen – unabhängig vom Förderstatus der Kinder. Eltern, deren Kinder – mit oder ohne Bedarf an sonderpädagogischer Förderung – eine inklusive Lernumgebung besuchen, bewerten den sozialen Zusammenhalt, die Möglichkeiten der Kinder, im eigenen Tempo zu lernen, das Engagement der Eltern, die Klassengrößen und das Ausmaß von Unterrichtsausfall und Vertretungsunterricht an „ihrer“ Schule positiver als Eltern mit Kindern an nicht inklusiven Schulen. Repräsentative Elternumfragen belegen darüber hinaus, dass auch inklusiv arbeitende Lehrkräfte deutlich positivere Rückmeldungen von Eltern erhalten als Lehrkräfte, die an nicht inklusiven Regelschulen unterrichten.

Das Fazit des Autors lautet: Der Blick auf die inklusive Schullandschaft Deutschlands lässt Fortschritte, Hindernisse und noch ungelöste Probleme erkennen. Die Studie hätte gezeigt, dass für die Erreichung eines inklusiven Unterrichts nicht der jeweils realisierte Inklusionsanteil, sondern die Exklusionsquote der aussagekräftige Indikator ist, da nur die Exklusionsquote Aufschluss darüber gebe, wie viele junge Menschen aufgrund ihrer Behinderung von allgemeinen Schulen ausgeschlossen bleiben. Es zeige sich: Je deutlicher sich die Schulstruktur der Länder auf ein zweigliedriges Schulsystem hin entwickelt, umso eher haben Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Chance, inklusiv in anregungsreichen und fordernden Lernmilieus unterrichtet zu werden.

Eltern von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Förderung würden inklusive Schulen als Schulen erleben, in denen die Unterrichtsqualität weiter entwickelt ist als in nicht inklusiven Schulen. Diese Wahrnehmung stehe in deutlichem Widerspruch zu dem inklusionsskeptischen Grundtenor in öffentlichen Debatten zum Thema. Es sei notwendig, dass eine erfahrungsgestützte Bewertung des Inklusionsprozesses an die Stelle vorurteilsbestimmter Meinungsbildung tritt. Zudem dürfe sich die Schulpolitik bei der Umsetzung des Inklusionsziels nicht nur auf die allgemeinbildenden Schulen beschränken, sondern müsse auch die berufsbildenden Schulen einbeziehen.

Handlungsempfehlungen

1. Inklusion müsse im gesamten Bildungsverlauf verankert werden. Aktuell sinken die Teilhabechancen der behinderten Kinder und Jugendlichen im Bildungssystem mit zunehmendem Alter. Um dem entgegenzuwirken, sollten die Inklusionsbemühungen in weiterführenden Schulen, vor allem in Gymnasien und Realschulen, aber auch in der Ausbildung verstärkt werden.

2. Es bedürfe einheitlicher Konzepte in den Bundesländern. Gegenwärtig unterscheiden sich Inklusionsanteile, Förderquoten und Exklusionsquoten zwischen den Bundesländern stark. Damit der Wohnort nicht über die Teilhabechancen an Inklusion entscheidet, müssten gemeinsame Standards für Diagnostik und für die inklusive Beschulung entwickelt werden.

3. Die Exklusionsquote müsse gesenkt werden. Die für Inklusion unverzichtbaren sonderpädagogischen Kompetenzen in den unterschiedlichen Förderschwerpunkten müssten sukzessive in die Regelschulen verlagert werden.

4. Notwendig sei die Bereitstellung einer angemessenen Infrastruktur und eine geeignete Aus- und Weiterbildung des Personals. Die steigenden Förderquoten und Inklusionsanteile stellten das Bildungssystem vor erhebliche Herausforderungen. Gemeinsames Lernen brauche eine angemessene Infrastruktur und Inklusionskompetenzen und -erfahrungen im Lehrerkollegium. Die Lehrkräfte müssten besser aus- und weitergebildet werden, damit sie zunehmend heterogene Klassen unterrichten und sich stärker auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler mit ihren individuellen Bedarfen einstellen können. Das gelte besonders für Schulformen, in denen bisher noch kaum gemeinsam unterrichtet wird.