Handlungsempfehlungen

Leitlinien für die Wertebildung von Kindern und Jugendlichen

Thema

Wertebildung von Kindern und Jugendlichen

Herausgeberschaft

Bertelsmann Stiftung

Autoren/Autorinnen

Julia Tegeler/René Märtin

Erscheinungsort

Gütersloh

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung

Literaturangabe

Julia Tegeler/René Märtin: Leitlinien für die Wertebildung von Kindern und Jugendlichen. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt der Publikation ist, dass Werte in unserem Leben eine wichtige Rolle spielen: Als Vorstellungen von dem, was gesellschaftlich und persönlich wünschenswert ist, geben sie uns Orientierung für unser Handeln und den Umgang miteinander. Persönliche Wertvorstellungen seien maßgeblich dafür, wie die Menschen ihr Leben individuell gestalten. Die in einer Gesellschaft geltenden Grundwerte wiederum bildeten die Basis für ein friedvolles Miteinander und den sozialen Zusammenhalt.

Angesichts des gesellschaftlichen Wandels in den letzten Jahrzehnten, der mit zunehmender Komplexität und Vielfalt einhergeht, sei die Orientierung über Werte besonders wichtig. Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass im gegenwärtigen Deutschland Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen mit unterschiedlichen Überzeugungen, Wertorientierungen und Lebensstilen zusammenleben: Die Individuen haben vielfältige Handlungsmöglichkeiten, doch wächst  mit der Freiheit auch die Unübersichtlichkeit. Auf der gesellschaftlichen Ebene werde die zunehmende Vielfalt von großen Teilen der Bevölkerung als normal erlebt und als Bereicherung angesehen, doch könnten die unterschiedlichen, teilweise konkurrierenden Wertvorstellungen und Lebensstile auch Spannungen und Konflikte erzeugen. Daraus ergebe sich die Frage, wie die Menschen in Deutschland dauerhaft in einer vielfältigen Gesellschaft friedlich zusammenleben können und was sie – jenseits aller Unterschiedlichkeit – miteinander verbindet.

Die Autorin und der Autor weisen darauf hin, dass für junge Menschen Wertebildung von besonderer Bedeutung ist, da es immer schwieriger werde, das persönliche Leben in einer „Multioptionsgesellschaft“ selbst zu gestalten und unter vielen verschiedenen Lebensentwürfen den eigenen Weg zu finden. Für Kinder und Jugendliche sei die selbstständige Entwicklung von Orientierungsmaßstäben und Kompetenzen im Umgang mit Komplexität und Vielfalt aber ganz entscheidend, damit sie sich zu gemeinschaftsfähigen, verantwortungsvollen und starken Persönlichkeiten entwickeln können und in die Lage versetzt werden, sich für ein demokratisches Miteinander einzusetzen.

Die vorliegenden Leitlinien für die Wertebildung von Kindern und Jugendlichen wollen aufzeigen, welche Anforderungen pädagogisch initiierte Wertebildung erfüllen muss und an welchen Grundsätzen sie sich orientieren sollte. Die Leitlinien sind das Ergebnis einer intensiven Diskussion im Netzwerk Wertebildung: Sie fassen die gesammelten Erfahrungen von Akteuren aus der Praxis sowie Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Wertebildung zusammen.

Das Netzwerk Wertebildung wurde 2014 von der Bertelsmann Stiftung initiiert, um die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen unterschiedlichen institutionellen Akteuren der Wertebildung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland zu fördern, Wissen und Erfahrungen zu diesem Thema zu bündeln sowie Leitlinien und Orientierungshilfen für gute Praxis zu erarbeiten. Die Mitglieder des Netzwerks kommen aus den Bereichen Familienbildung, frühkindliche und schulische Bildung, Jugendarbeit sowie Bildungsverwaltung und -politik. Sie sind in Projekten, Initiativen und Institutionen tätig, die sich mit Wertebildung beschäftigen, und verfügen über vielfältige Erfahrungen zum Thema.

Darüber hinaus haben Forschende aus den Erziehungs- und Sozialwissenschaften die Entstehung der Leitlinien begleitet. Die Empfehlungen richten sich insbesondere an pädagogische Fachkräfte und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der fachlichen Leitungs- und Koordinationsebene in Bildungsinstitutionen, grundsätzlich aber an alle Akteure, die an der Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen beteiligt sind.

Wichtige Ergebnisse

Was ist Wertebildung?

Wertebildung wird in der Publikation als lebenslanger Prozess aufgefasst, in dem Menschen Wertebewusstsein, Werthaltungen und Wertekompetenz entwickeln sowie wertorientiertes Handeln erlernen. Die entscheidenden Grundlagen hierfür werden in Kindheit und Jugend gelegt.

Wertebildung orientiert sich demnach vor allem an drei zentralen Zielen, die miteinander zusammenhängen:

  • einer wertorientierten Persönlichkeitsentwicklung,
  • der Auseinandersetzung mit und die Anerkennung von Grundwerten des demokratischen Miteinanders und
  • dem gelingenden Umgang mit Wertevielfalt und Wertekonflikten.

In diesem Verständnis nimmt Wertebildung den Dreiklang aus Haltung, Kompetenz und Handeln in den Blick: Kinder und Jugendliche werden darin unterstützt, Werthaltungen zu entwickeln, Wertekompetenz zu erwerben und wertorientiert zu handeln. Eine besondere Bedeutung hat dabei die Auseinandersetzung mit den freiheitlichen, sozialen und demokratischen Grundwerten sowie ihrer Anerkennung als wesentliches Fundament unserer Gesellschaft – und damit der Förderung von sozialen, demokratischen Werthaltungen, Kompetenzen und Handlungen.

Festgestellt wird, dass die gegenwärtige Praxis der Wertebildung vielfältig ist. Unterschiedliche Bildungsträger engagieren sich in diesem Bereich und in den meisten Lehrplänen ist sie als wichtiges Bildungsziel erwähnt. Das Netzwerk Wertebildung kommt jedoch zu dem Schluss, dass Wertebildung noch zu selten als Querschnittsaufgabe bewusst im Bildungsalltag verankert ist. Zudem seien Erfahrungen guter Praxis häufig noch nicht weit genug verbreitet, obwohl die Wertebildung von Kindern und Jugendlichen ein wesentlicher Garant für die Weiterentwicklung und das Überleben der Demokratie ist. Damit das gelinge und Wertebildung in angemessener Weise Teil der Persönlichkeitsentwicklung jedes Kindes und Jugendlichen werden kann, bedürfe es daher gemeinsamer Anstrengungen und der Zusammenarbeit von unterschiedlichsten Akteuren – Familie, Kita, Schule, Jugendarbeit, Vereine etc. –, da Wertebildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aufzufassen ist.

 

Leitlinien gelingender Wertebildung

Die Leitlinien basieren auf vielfältigen Erfahrungen guter Praxis und beziehen sich inhaltlich auf die Voraussetzungen und die Gestaltung des pädagogischen Prozesses sowie auf die institutionelle Verankerung von Wertebildung. Sie sollen als Grundlage für Wertebildung in allen Handlungsfeldern dienen und Ausgangspunkt für die Entwicklung spezifischerer Leitlinien in den einzelnen Bildungsbereichen und -institutionen sein.

1. Auf Beteiligung und Dialog setzen

Gute pädagogische Wertebildung stellt nach Auffassung des Netzwerks Wertebildung die selbstständige Aneignung eines Wertes in den Mittelpunkt und regt zur kritischen Auseinandersetzung mit Werten an. Sie eröffne Dialog-, Handlungs- und Erfahrungsräume, in denen junge Menschen Werte entdecken, erleben und reflektieren sowie über sie diskutieren können. Kinder und Jugendliche sollten deshalb von Anfang an aktiv mit einbezogen werden: Wichtig seien Beteiligung, demokratische Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse sowie Wertekommunikation, das heißt der Austausch über Werte. Wertebildung sollte als partizipativer und dialogischer Prozess gestaltet werden, in den sich Kinder und Jugendliche einbringen können.

2. An die Lebenswelt und an die Ressourcen anknüpfen

Wirkungsvolle pädagogische Wertebildung gehe auf die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ein, knüpfe an ihre Alltagserfahrungen, Interessen, Bedürfnisse und Ressourcen an und greife die damit verbundenen Wertefragen oder -konflikte auf. Darüber hinaus sollten alltagsintegrierte Ansätze genutzt werden: Wertebildung sollte nicht nur an besonderen Lernorten stattfinden, etwa in Jugendbildungsstätten oder an Gedenkstätten, sondern sich auch in außerschulische Bildungsprozesse und den Alltag einbringen, etwa durch anlassbezogene Diskussionen oder die Förderung von Hilfsbereitschaft im Miteinander.

3. Wertebildung direkt und indirekt unterstützen

Gute pädagogische Ansätze sollten direkte und indirekte Formen der Wertebildung verknüpfen. Eine direkte Förderung erfolge durch Wertedialog oder die Diskussion von Wertedilemmata, aber auch durch gezielte Maßnahmen, wie die Durchführung sozialer Projekte mit anschließender Reflexion. Eine indirekte Unterstützung erfahre Wertebildung vor allem durch eine Anerkennungskultur, die Gestaltung eines wertschätzenden Lernumfelds und insbesondere durch Vorbilder.

4. Wertschätzende Beziehungen und Vorbilder fördern

Betont wird, dass zwischenmenschliche Beziehungen bei der Entwicklung von Werthaltungen und Wertekompetenz eine entscheidende Rolle spielen. Sie führen zu einer emotionalen Verbundenheit mit Werten, die auch eine Nachhaltigkeit der Werthaltungen befördert. Für eine gelingende Wertebildung brauche es daher tragfähige soziale Beziehungen, die von gegenseitiger Wertschätzung und Anerkennung geprägt sind.

Eine besondere Rolle komme dabei Vorbildern zu, an denen sich Kinder und Jugendliche orientieren, beispielsweise Eltern, Großeltern, Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher. Wertebildung gelinge, wenn sich diese Personen ihrer Rolle als Vorbild bewusst sind, Werte authentisch vorleben und Kindern und Jugendlichen zugleich Gelegenheit zur kritischen Auseinandersetzung bieten. Dafür brauche es neben Anregungen auch manchmal Grenzsetzungen und in Konfliktsituationen klare Positionen. Ebenfalls notwendig sei ein kritischer öffentlicher Diskurs über die Rollen von Idolen und Prominenten und deren Darstellung in den Medien.

5. Werterleben ermöglichen

Gute pädagogische Wertebildung sollte Gelegenheiten für bewusstes emotionales Erleben von Werten schaffen und dabei Ansätze des sozial-emotionalen und erfahrungsorientierten Lernens nutzen, wie etwa Service Learning, interkultureller Austausch, oder sportliche Ansätze wie Fairplay. Diese könnten mit kognitiven, wissensbasierten Methoden zur Reflexion von Werten verbunden werden. So könne ein Klima der Anerkennung, des Respekts und der Wertschätzung – auch der wertschätzenden Kritik und Konfrontation – geschaffen werden.

6. Wertereflexion anregen

Gute wertebildende Angebote sollten nicht nur an Erfahrungen, Handlungen und Erlebnisse im Alltag anknüpfen, sondern auch Gelegenheit zur Reflexion von Werten bieten und diesen Prozess anleiten. Dabei gehe es vor allem darum, sich die eigenen Werte und die der anderen bewusst zu machen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Das könne nebenbei im Alltag geschehen, doch sei es auch sinnvoll, altersgerechte Kommunikationsanlässe und Dialogräume zu schaffen. Dabei sollten auch die digitalen Medien und sozialen Netzwerke genutzt werden. Für die Entwicklung einer persönlichen, wertbezogenen Haltung sei das Zusammenspiel von Werterleben und Wertereflexion bedeutend. Erst daraus könnten Werthaltungen entstehen, die die Lebensführung und -gestaltung nachhaltig beeinflussen.

7. Wertekompetenz und wertorientiertes Handeln fördern

Gute Wertebildung ziele auf die Herausbildung von Wertekompetenz: Diese umfasse die Fähigkeit, Werte zu reflektieren, eigene Werthaltungen zum Ausdruck zu bringen und zu begründen, auch in ambivalenten Situationen Werturteile zu fällen, Wertekonflikte gewaltfrei und produktiv zu regeln sowie wertorientiert zu handeln. Hierfür brauche es personale und soziale Kompetenzen, wie Empathie, Fähigkeit zur Perspektivübernahme, Beziehungs- und Kooperationsfähigkeit, Konflikt- und Dialogfähigkeit sowie Urteilsfähigkeit. Gute pädagogische Wertebildung müsse diese Kompetenzen gezielt fördern.

Eine wichtige Dimension von Wertekompetenz ist wertorientiertes Handeln. Das bedeutet, dass Kinder und Jugendliche nicht nur bestimmte Werthaltungen entwickeln sollten, sondern auch dazu befähigt werden, ihnen gemäß zu handeln. Gute Wertebildung sei deshalb kompetenz- und handlungsorientiert. Sie biete Gelegenheiten, Kompetenzen zu entwickeln und wertorientiertes Handeln einzuüben: Kinder und Jugendliche können dabei im eigenen Handeln Werte praktisch umsetzen, Werterfahrungen machen und sich wertorientiertes Verhalten aneignen.

8. Fachkräfte qualifizieren

Pädagogische Fachkräfte, Jugendbildner oder Trainerinnen und Trainer sollten sich der Bedeutung von Wertebildung und ihrer eigenen Vorbildrolle bewusst sein und Werte authentisch vorleben. Sie seien dafür verantwortlich, Handlungs-, Erfahrungs- und Dialogräume für Wertebildung zu schaffen. Dafür bedürfe es einer professionellen pädagogischen Haltung der Anerkennung und Wertschätzung. In der pädagogischen Arbeit sind Freiwilligkeit und Partizipation der Kinder und Jugendlichen wichtige Voraussetzungen für gelingende Wertebildung.

Die Entwicklung einer bewusst wertebildenden Haltung bei Fachkräften könne befördert werden, wenn in Organisationen Angebote zur Reflexion der eigenen Werte und des eigenen Handelns gemacht werden. Dafür ist es hilfreich, Strukturen der Supervision zu etablieren und Zusatzqualifikationen sowie Fortbildungen zur Wertebildung anzubieten.

9. Strukturen schaffen

Erfolgreiche Wertebildung brauche das Engagement der an der Wertebildung beteiligten Institutionen/Organisationen und Akteure. Erste Voraussetzung für eine gelingende Wertebildung ist daher eine Wertediskussion in der jeweiligen Organisation/Institution. Die dabei ausgehandelten Werte sollten anschließend nach außen wie nach innen kommuniziert werden, da sie Leitlinie für das Handeln innerhalb der Organisation/Institution sind und die Ziele von Wertebildung definieren. In einem zweiten Schritt sollten sich alle Beteiligten über Wertebildungsmaßnahmen sowie deren Umsetzung innerhalb der Institution/Organisation verständigen. Als anerkannter Bestandteil des pädagogischen Konzepts sollten die Werte dann durch konkrete, verbindliche und vor allem für Kinder- und Jugendliche nachvollziehbare Grundsätze institutionell verankert werden, insbesondere sollten geeignete Formen von Partizipations- und Feedbackmöglichkeiten etabliert werden.

10. Qualität sichern

Zu einer gelingenden Wertebildung gehöre die regelmäßige Evaluation der Angebote. Eine solche Qualitätssicherung könne intern oder durch einen externen Anbieter vorgenommen werden, abhängig von der Fragestellung, den damit verbundenen methodischen Erfordernissen sowie den zeitlichen und finanziellen Ressourcen der Organisation. Es sollte regelmäßig überprüft werden, ob die angestrebten Ziele erreicht werden und unerwartete (erwünschte oder unerwünschte) Wirkungen des Wertebildungsprojekts festzustellen sind. Die Ergebnisse der Evaluation sollten dann in die Weiterentwicklung der Angebote einfließen.

Fazit

Eine offene, vielfältige und demokratische Gesellschaft ist nach Auffassung des Netzwerks Wertebildung darauf angewiesen, dass Menschen gemeinsam geteilte Grundwerte des friedlichen Miteinanders anerkennen und über Kompetenzen verfügen, mit der Vielfalt an Wertorientierungen und Lebensstilen umzugehen. Wertebildung sei dafür eine unverzichtbare Voraussetzung. Alle könnten dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche demokratische Werthaltungen entwickeln und wissen, wie sie diese anwenden und verteidigen müssen. Dazu bedürfe es verschiedener Aspekte: Theoretische Reflexion müsse mit praktischen Erfahrungen verknüpft werden, es müssten vielfältige Erfahrungsräume geboten werden und es bedürfe einer fruchtbaren Kultur der Anerkennung, Wertschätzung und Teilhabe in einer Institution/Organisation.

Die Ausgestaltung und das Gelingen der Wertebildung seien daher immer auf folgende Punkte bezogen:

  • das Miteinander zwischen Projektmitarbeitenden und -teilnehmenden;
  • die Zusammenarbeit aller Beteiligten innerhalb einer Organisation/Institution, etwa in der Schule von Schulleitungen, Lehrkräften, Eltern, Schülerinnen und Schülern;
  • die institutionsübergreifende Zusammenarbeit, etwa zwischen Kita und Schule oder zwischen Schule und Jugendarbeit;
  • Interaktionen auf gesellschaftlicher Ebene, etwa für die Bildungspolitik, in lokalen Bildungslandschaften, Netzwerken und Bündnissen.

Zusammengefasst werden für die Praxis der Wertebildung vier zentrale Gelingensfaktoren formuliert:

  • Wertebildung mit allen Beteiligten kooperativ und gemeinsam initiieren
  • Wertebildung lebenswelt- und ressourcenorientiert gestalten
  • Wertebildung ganzheitlich verstehen
  • Wertebildung institutionell verankern