Expertise

Ökonomisierung schulischer Bildung

Thema

Chancengerechtigkeit im Bildungssystem und Allgemeinbildung

Herausgeberschaft

Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hg.)

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2020

Stiftungsengagement

Rosa-Luxemburg-Stiftung

Literaturangabe

Tim Engartner: Ökonomisierung schulischer Bildung. Analysen und Alternativen. Hg. v. Rosa-Luxemburg-Stiftung. Berlin 2020.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

In der Studie wird die zunehmende Ökonomisierung schulischer Bildung in Deutschland beleuchtet – insbesondere vor dem Hintergrund von Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem und einem umfassenden Bildungsbegriff der Allgemeinbildung. Aufgezeigt werden Ursachen für die Ökonomisierung im deutschen Schulsystem, aber auch Alternativen zu dieser Entwicklung (Wie kann Schule gelingen?). Am Ende werden schulpolitische Forderungen aufgestellt, um der Ökonomisierung des Schulsystems entgegenzuwirken.  

Autor der Studie ist Prof. Dr. Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Direktor der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung (ABL) sowie Vorsitzender der Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft (GSÖBW).

Wichtige Ergebnisse

Wichtige Ergebnisse

Der Autor stellt fest, dass ökonomische Begründungs-, Entscheidungs- und Handlungslogiken im deutschen Schulsystem zugenommen haben. Mit dieser Entwicklung seien große Gefahren verbunden, da Bildung mit individuellen Preisen statt mit gesellschaftlichen Werten belegt wird. Die Ökonomisierung schulischer Bildung beschränke sich längst nicht mehr auf das Sponsoring von Schulfesten durch Unternehmen oder den bundesweit anhaltenden Boom von Privatschulen. Inzwischen gebe es auch eine Vielzahl unternehmensnaher Stiftungen mit Lehrerfort- und -weiterbildungen, die mit den Angeboten von Hochschulen oder Ministerien konkurrieren. Viele Schulbuchverlage, Stiftungen und Verbände – darunter der Bundesverband deutscher Banken, der Verband der Chemischen Industrie, aber auch die Wissensfabrik als Zusammenschluss von mehr als 140 Unternehmen – würden inzwischen Weiterbildungen anbieten. Eine Aushöhlung des staatlichen Schulsystems finde darüber hinaus über einen wachsenden „Bildungsmarkt“ der Nachhilfeinstitute statt, deren Wirkmächtigkeit sich daran zeige, dass inzwischen jedes vierte schulpflichtige Kind Nachhilfe erhält.

Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass der Aufstieg dieser außerschulischen Lernorte zwei Ursachen hat: einerseits die Schwächen des staatlichen Schulsystems, insbesondere die chronische Unterfinanzierung der Schulen, andererseits die vielfältigen Angebotsstrukturen der nichtstaatlichen Institutionen.

Zudem hätten Bund und Länder den Digitalkonzernen mit dem 2019 verabschiedeten „DigitalPakt Schule“ sehr lukrative Absatzmärkte geschaffen. Große Unternehmen wie Google, Apple, Microsoft und Samsung hätten vergleichsweise wenige Widerstände auf dem Weg in die Klassenzimmer überwinden müssen, während zum Beispiel der von Amazon angebotene „Kindle Storyteller Kids“-Schreibwettbewerb in einigen Bundesländern verboten wurde. Engartner kommt zu dem Schluss, dass die Digitalisierung der Schulen bislang eher von ökonomischen Interessen als von pädagogischen Konzepten geprägt ist. Deshalb bleibe abzuwarten, ob das milliardenschwere Programm Lehrenden und Lernenden das Lehren und Lernen wirklich erleichtern wird.

Engartner sieht folgende Tendenzen als Ausdruck der Ökonomisierungstendenzen im Schulsystem:

  • die Debatte um „Schulzeitverkürzung“ nach den Vorgaben des achtjährigen Gymnasiums (G8),
  • die Expansion ökonomischer Bildung in den Stundentafeln und
  • die curriculare Aufwertung der auf Arbeitsmarktrelevanz zielenden Berufsorientierung.

Die Frage, wie es ausgerechnet in Deutschland zu einer derart radikalen Abkehr von Allgemeinbildungsansprüchen kommen konnte, könne zwar nicht erschöpfend beantwortet werden. Der Epochenbruch im Bildungsverständnis scheint aus Engartners Sicht seinen Ausgangspunkt aber in der flächendeckenden Einführung zentraler Schulleistungsvergleiche wie PISA, IGLU und TIMSS zu haben.

Das Schulsystem unterliege auch deshalb immer häufiger dem Primat der Ökonomie, weil Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene durch die gesellschaftliche Erwartungshaltung darin gebremst werden, sich um ihrer selbst willen zu bilden. So zeige die Untersuchung anhand von 59 geforderten und teilweise neu eingeführten Unterrichtsfächern, dass Schul-, Bildungs- und Kultusministerien inzwischen Anwendbarkeit, Verwertbarkeit und Arbeitsmarktkompatibilität von Bildung vielfach zum Maßstab schulischer Lehr- und Lernprozesse erklärt hätten. Privatschulen, Nachhilfeinstitute und digitale Bildungsangebote würden dabei noch die gesellschaftliche Spaltung vertiefen und verfestigen.

Schulpolitische Forderungen Engartners, um der Ökonomisierung des Bildungssystems entgegenzuwirken:

1. Das Schulsystem muss ausreichend finanziert werden.

2. Notwendig ist weniger Wettbewerb und mehr Egalität zwischen den Schulen.

3. Es bedarf eines prinzipiellen Werbeverbots an Schulen.

4. Es braucht eine pädagogisch legitimierte Nutzung digitaler Medien.

5. (Angehende) Lehrkräfte müssen in ihren Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten für die lobbyistisch motivierte Einflussnahme auf Schulen sensibilisiert werden.

6. Sämtliche Unterrichtsmaterialien müssen ein Prüfverfahren durchlaufen.

7. Ökonomische Bildung muss mit politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Paradigmen,  Theorien und Modellen verzahnt werden.

8. Das Verlangen nach praxistauglichem Wissen darf nicht zu einer Abkehr vom schulischen Allgemeinbildungsanspruch führen.