Fachpublikation

RomnoKher-Studie 2021. Ungleiche Teilhabe. Zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland

Thema

Teilhabemöglichkeiten von Sinti und Roma im deutschen Bildungssystem

Herausgeberschaft

Daniel Strauß (Hg.)

Autoren/Autorinnen

zahlreiche Autorinnen und Autoren

Erscheinungsort

Mannheim

Erscheinungsjahr

2021

Stiftungsengagement

Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“

Literaturangabe

Daniel Strauß (Hg.): RomnoKher-Studie 2021. Ungleiche Teilhabe. Zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland. Gefördert durch die Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Mannheim: RomnoKher 2021.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass die Europäische Kommission mit dem Europäischen Rahmen für Gleichbehandlung und Inklusion von Sinti und Roma bis 2030 das Ziel verfolgt, Antiziganismus zu bekämpfen und europaweit mehr Teilhabe von Sinti und Roma zu erreichen. Allerdings sei im deutschen Bildungssystem das Menschenrecht auf Bildung bei Sinti*ze und Rom*nja noch nicht realisiert.

Die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) förderte im Jahr 2011 die erste bundesweite „Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma“ und nahm deren Befunde der Benachteiligung zum Anlass, sich verstärkt für eine gleichberechtigte Bildungsteilhabe von Rom*nja und Sinti*ze einzusetzen. So richtete die Stiftung EVZ einen bundesweiten Arbeitskreis ein, der in Zusammenarbeit mit Vertretungen von Bund, Länder, Kommunen, Wissenschaft, Stiftungen sowie Sinti*ze und Rom*nja-Selbstorganisationen Empfehlungen formulierte. Das Förderprogramm „Stärkung der Bildungsteilhabe und der Selbstorganisationen von Sinti*ze und Rom*nja in Deutschland“ in Kooperation mit der Freudenberg Stiftung soll zur Umsetzung dieser Empfehlungen beitragen. Gefördert werden Projektideen, die die Bildungssituation von Sinti*ze und Rom*nja verbessern und Selbstorganisationen stärken.

Die Gründung der Hildegard Lagrenne Stiftung (HLS) 2012 war ein weiteres Ergebnis der ersten RomnoKher-Studie. Die HLS versteht sich als Basis für die Akquise von Mitteln für die gezielte Förderung der gleichberechtigten Teilhabe von Roma und Sinti in Deutschland.

Die RomnoKher gGmbH hat mit Unterstützung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) im Jahr 2021 eine neue Studie zur Lage der Sinti*ze und Rom*nja in Deutschland vorgelegt. Hier werden die Erfahrungen und Qualifikationen von Sinti*ze und Rom*nja im deutschen Bildungssystem von der Kita bis zur Berufsausbildung untersucht.

Die internetgestützte Befragung für die Studie (September bis Dezember 2020) organisierte eine bundesweite Arbeitsgemeinschaft der RomnoKher gGmbH, die auch die knapp 700 Interviews mit einheimischen und zugewanderten Rom*nja und Sinti*ze aus allen Bundesländern ausgewertet hat​​​​​​​. Die Studie soll eine Lücke in der Bildungsforschung schließen, da bisher kaum substanzielle Forschungen zur Bildungsteilhabe von Sinti*ze und Rom*nja in Deutschland vorliegen.

Wichtige Ergebnisse

Wichtige Ergebnisse

Vielfältigkeit der Sinti und Roma

Bei den Befragten zeigt sich ein breites Spektrum an Lebenswegen, -orten, -situationen, sprachlichen Biografien und sozioökonomischen Positionen in der Gesellschaft. Die Bildungssituation(en) der von RomnoKher befragten Sinti und Roma sind dieser Diversität entsprechend ebenfalls ausgesprochen ausdifferenziert.

Aktuell werden bei Sinti und Roma im Vergleich zur Gesamtgesellschaft immer noch überdurchschnittlich hohe Exklusionsquoten deutlich. So besuchen weniger Kinder einen Kindergarten, die Anteile bei Personen ohne Schulabschluss oder ohne berufsqualifizierende Ausbildung sind höher und es wird seltener ein Hochschulstudium aufgenommen, obwohl mittlerweile viele von ihnen über eine Studienberechtigung verfügen – es wird vermutet, dass sie von Zugangsbarrieren wie Sprache, ökonomisches Kapital, bürokratische Barrieren abgehalten werden.

Allerdings hat sich gegenüber den vergangenen Jahrzehnten die Inklusionsquote erhöht. Diese fällt zwar im Vergleich zur Gesamtgesellschaft immer noch gering aus, nimmt aber eindeutig zu. Das zeigt sich zum Beispiel an folgenden Entwicklungen:

  • Die (erstgeborenen eigenen) Kinder der Befragten partizipieren heute mehrheitlich an der Elementarbildung.
  • Schüler*innen der jüngsten Generation besuchen mittlerweile zu 100 Prozent die Grundschule.
  • Die Jugendlichen verlassen fast zu drei Vierteln die Sekundarschule mit einem Abschluss.
  • Jede*r Zehnte erlangt die Studienberechtigung zur Hochschule.

Die Studienergebnisse zeigen im Vergleich mit der RomnoKher-Studie 2011, dass sich die Bildungssituation von Rom*nja und Sinti*ze im schulischen Bereich in den letzten zehn Jahren deutlich verbessert hat, im Ausbildungsbereich aber nur leicht.

  • Für die Schulbesuchsquote in der Primarstufe und der Sekundarstufe 1 sind keine wesentlichen Unterschiede zwischen den befragten jungen Sinti*ze und Rom*nja und dem bundesweiten Durchschnitt zu erkennen.
  • Der Anteil an Abiturient*innen ist auf 17 Prozent (18 bis 25 Jahre) gestiegen.
  • Der Anteil von Haupt- und Realschulabsolvent*innen hat sich von 30 auf 65 Prozent erhöht.
  • Der Anteil der Sinti*ze und Rom*nja ohne Schulabschluss ist von 55 Prozent auf unter 15 Prozent gesunken. Der Unterschied zur Gesamtbevölkerung ist jedoch weiterhin signifikant: Der Anteil von Erwachsenen aller Altersstufen ohne Schulabschluss liegt in der Bundesrepublik bei 5 Prozent.
  • Immer noch 40 Prozent der 18- bis 50-jährigen Befragten haben keinen beruflichen Abschluss.
  • 60 Prozent der befragten Rom*nja und Sinti*ze haben in der Schule Diskriminierung und Rassismus erlebt.

Die Studie macht gleichzeitig die gestiegenen Erwartungen und Potenziale der Minderheit deutlich: 

  • 85 Prozent der Befragten gaben an, dass es zu ihrem kulturellen Selbstverständnis gehört, Romanes, die Sprache der Rom*nja und Sinti*ze, zu sprechen und zu pflegen.
  • Knapp ein Viertel der Befragten spricht mindestens drei Sprachen.

Die Befragungsergebnisse verdeutlichen auch die Langzeitwirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung. Ausgrenzung und Schulverbot, Deportation und Vernichtung der Rom*nja und Sinti*ze durch die Nationalsozialist*innen wirken sich bis heute aus. So entstanden Bildungsdefizite in den Elterngenerationen, die Einfluss auf die Bildungschancen der Nachkommen bis hin zu heutigen jungen Sinti*ze und Rom*nja haben.

Es kann festgestellt werden, dass die durchschnittlichen Inklusionsquoten über die Zeit deutlich erhöht werden konnten. Heute genießt die jüngste Generation der Befragten deutlich mehr Bildung, zum Beispiel gegenüber den Befragten der RomnoKher-Studie von 2011.

Blick in die einzelnen Bereiche des deutschen Bildungssystems

Elementarbereich:

  • Es zeigt sich ein positiver Einstellungswandel der Befragten, die die Kita heute weniger als Betreuungs-, sondern vielmehr als Bildungsangebot wahrnehmen. Über 60 Prozent der Befragten lassen ihr (erstgeborenes) Kind außerfamiliär im Elementarbereich betreuen und bilden. Von dieser elementaren Bildung profitiert auch das Passungsverhältnis zwischen Kind, Lerninhalten und Grundschule bzw. Primarbereich.
  • Unter den Befragten ist eine 100-prozentige Einschulungsquote festzustellen. In der jüngsten Generation haben aber immerhin noch 14,6 Prozent die Grundschule nicht regelmäßig besucht. Das weist darauf hin, dass weiterhin institutionelle und strukturelle Barrieren und Benachteiligungen existieren, die viele Schüler*innen an einem konstanten Schulbesuch und damit am schulischen Lernen hindern.

Sekundarbereich:

  • Fast alle Befragten (96,5 Prozent) haben zunächst ihren Bildungsweg an einer weiterführenden Schule fortgesetzt, doch gelingt es diesem Bildungsbereich offenbar (noch) nicht ausreichend, die Schüler*innen aus Roma- und Sinti-Communities nachhaltig zu erreichen und sie erfolgreich zum Abschluss zu begleiten: Etwa ein Drittel (33,9 Prozent) der Befragten hat die Schule ohne Abschluss verlassen. Allerdings hat sich der Anteil unter den jüngsten Befragten mittlerweile halbiert. Er liegt nun bei 17,1 Prozent, ist damit allerdings immer noch mehr als doppelt so hoch wie der bundesweite Durchschnitt derjenigen ohne Abschluss (7 Prozent; Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020).

Tertiärer Bildungsbereich:

Die Zugänge zu höherer Bildung, also zum tertiären Bildungsbereich, sind nach wie vor für viele Angehörige der Sinti- und Roma-Communities besonders erschwert.

  • Lediglich 4,2 Prozent erlangen einen Hochschul-/Universitätsabschluss. Dieser Anteil ist auch in der jüngsten Generation gleich geblieben.
  • Dabei verfügen doppelt so viele der Befragten über eine Hochschulzugangsberechtigung (10,5 Prozent) und dürften somit eine Hochschule besuchen. In der jüngsten Generation liegt der Anteil der Studienberechtigten sogar bei 17 Prozent, das heißt jede*r Fünfte der Sinti- und Roma-Community im Alter zwischen 18 bis 25 Jahren hat den Zugang zur Hochschule erreicht.

Förderschule:

Beim Besuch der Förderschule zeigt sich eine eindeutige Angleichung von bundesweitem Durchschnitt und der der befragten Minderheit. Dies zeigt nach Ansicht der Autoren, dass die pädagogische Praxis in Bezug auf das Konstrukt „Behinderung“ im deutschen Bildungssystem – zumindest im Durchschnitt betrachtet – eine weniger ethnisierende Perspektive einnimmt und zumindest keinen diskriminierenden Unterschied mehr zwischen Angehörigen der Minderheit und Nicht-Sinti/Nicht-Roma macht.

Bildungspolitische Empfehlungen:

  • Förderung eines ressourcen-orientierten Umgangs mit Diversität und gesamtgesellschaftliche Bekämpfung von Antiziganismus
  • Sicherung des Zugangs zu qualitätsvoller inklusiver Bildung – vom Elementarbereich bis zum Tertiären Sektor

Fazit

Die Datenanalyse zeichnet nach Ansicht der Autor*innen nicht nur ein differenziertes Bild der ausdifferenzierten, aber eben weiterhin – historisch bedingten – benachteiligten Lebens- und Bildungssituationen der befragten Sinti und Roma. Sie zeige darüber hinaus, dass Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Rassismus in ihren unterschiedlichen Ausprägungen eine besondere Durchschlagskraft entfalten, wenn konkrete historische, rechtliche, politische und sozioökonomische Rahmenbedingungen ausgeblendet werden und stattdessen ethno-natio-kulturelle Erzählungen tradiert und schließlich institutionell-routiniert wirksam werden. Ein besonders deutliches Beispiel sei die weiterhin aktuelle Debatte um die sogenannten Armutsflüchtlinge aus Südosteuropa – womit tatsächlich Roma gemeint seien. Auch hier ignorierten die verantwortlichen Akteur*innen die komplexen Rahmenbedingungen, unter denen die Einwanderung stattfindet, und die Einschätzung der betroffenen Menschen selbst. Stattdessen werde den Kindern der Migrant*innen nur eingeschränkt ihr Recht auf Bildung zugestanden. Die vorliegenden Ergebnisse würden deutlich zeigen, dass Rassismen in der Gesellschaft, in ihren öffentlich-rechtlichen Einrichtungen sowie im öffentlich-medialen Diskurs, also in der Mitte eingelagert und kein Randphänomen seien, wie immer wieder behauptet werde. Durch diesen alltäglichen routinierten und institutionalisierten Sozial- und Kulturrassismus würden Angehörige der Roma- und Sinti-Communities besonders stark in ihren Partizipationsmöglichkeiten eingeschränkt – im durchschnittlichen Vergleich zur bundesweiten Gesamtgesellschaft sowie im durchschnittlichen Vergleich zu Menschen mit Migrationshintergrund.

Da das Menschenrecht auf Bildung eine Schlüsselrolle für die gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft spiele, bleibe es nach wie vor eine wichtige Aufgabe, die Bildungschancen von Sinti*ze und Rom*nja weiter zu verbessern – auch wenn sich die Teilhabe in einigen Bildungsabschnitten in den letzten Jahren verbessert habe.

Um eine vollständige Bildungsteilhabe zu erreichen, wären drei Aspekte besonders wichtig:

1. Es brauche gezielte Maßnahmen zur Förderung bildungsbenachteiligter Sinti*ze und Rom*nja.

2. Notwendig sei auch eine antiziganismus- und diskriminierungssensible Entwicklung des Bildungssystems.

3. Das Thema müsse verstärkt in die Bildungsforschung aufgenommen werden.