Fachpublikation

Soziale Herkunft und Bildungserfolg

Thema

Soziale Herkunft und Bildungserfolg

Herausgeberschaft

Burkhard Jungkamp/Marei John-Ohnesorg (Friedrich-Ebert-Stiftung)

Autoren/Autorinnen

Klaus Klemm/Nils Berkemeyer/Ilka Hoffmann/Regina Büttner/Ernst Dieter Rossmann/Burkhard Jungkamp

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2016

Stiftungsengagement

Friedrich-Ebert-Stiftung

Literaturangabe

Burkhard Jungkamp/Marei John-Ohnesorg (Hrsg.): Soziale Herkunft und Bildungserfolg. Schriftenreihe des Netzwerk Bildung, Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin 2016.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Hintergrund ist, dass in Deutschland der Bildungserfolg stärker als in vielen anderen OECD-Ländern von der sozialen Herkunft abhängig ist. Soziale Disparitäten verstärken sich zudem von Bildungsstufe zu Bildungsstufe. Da Bildungschancen großen Einfluss auf die Lebenschancen haben – sei es auf den Zugang zum Arbeitsmarkt, die Verteilung materieller Ressourcen oder die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe, ergibt sich nach Auffassung der Autorinnen und Autoren ein massives Gerechtigkeitsproblem. Eine wichtige Aufgabe bestehe deshalb darin, Bildungserfolg und soziale Herkunft zu entkoppeln.

Die Publikation versammelt Beiträge zu diesem Thema auf der Grundlage einer Fachkonferenz des Netzwerk Bildung am 3. Dezember 2015 in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Aus den unterschiedlichen Perspektiven von Politik, Wissenschaft und Schulpraxis werden aktuelle Befunde und Erkenntnisse diskutiert sowie bildungspolitische und schulpraktische Maßnahmen aufgezeigt, die dazu beitragen können, mehr Gerechtigkeit im Bildungssystem herzustellen.

Wichtige Ergebnisse

Folgende Thesen und Empfehlungen wurden entwickelt:

Hohe soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems

Die Reformen im Bildungssystem, die nach PISA bundesländerübergreifend eingeleitet wurden, seien kaum auf die Verringerung der Abhängigkeit von sozialer Herkunft und Bildungserfolg ausgerichtet gewesen. Seitdem hätten sich zwar die Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich verbessert, doch habe sich die hohe soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems nur wenig verringert.

Herstellung von Chancengleichheit im Bildungssystem als grundgesetzliche Aufgabe

Die hohe soziale Selektivität im Bildungssystem sei in hohem Maße ungerecht, da Bildungs- und damit Lebenschancen ungleich verteilt werden: Kinder aus sozial schwächeren Familien haben im Verlauf ihrer Bildungskarriere nur wenig Aufstiegschancen. Diese Benachteiligung stehe dem Auftrag des Grundgesetzes entgegen, niemanden aufgrund seiner Herkunft zu benachteiligen (Art. 3 GG). Das Bildungssystem müsse deshalb allen Menschen den gleichen Zugang zu Bildung und Qualifikation ermöglichen, gleiche Bildungschancen herstellen und Ungleichheiten ausgleichen.

Mythos „Begabungsgerechtigkeit“

Die enge Verknüpfung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg im deutschen Bildungssystem sei auf das gegliederte Schulsystem zurückzuführen, das sehr früh und nachhaltig selektiert bzw. Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche, nach Leistungen gegliederte Bildungsgänge aufteilt. Dies werde häufig legitimiert durch die Einteilung der Schülerinnen und Schüler in Begabte und weniger Begabte. Beim Begabungsbegriff handele es sich aber um ein hypothetisches, unwissenschaftliches Konstrukt.

Mehr Chancen durch ein durchlässiges, anschlussfähiges Bildungssystem

Schichtspezifische Bildungsungleichheiten ließen sich über den gesamten Verlauf institutioneller Bildung feststellen. Wenn man den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg mindern wolle, müsse das Bildungssystem als Ganzes betrachtet werden. Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit der einzelnen Bildungsstufen müssten verbessert werden, zum Beispiel durch einen übergreifenden Rahmenlehrplan für die Jahrgangsstufen 1-10.

Ausgleich von Bildungsungleichheiten durch inklusive Bildung

Inklusive Schulen, die auch den Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft verringern möchten, wollen alle Schülerinnen und Schüler fördern und verstehen sich mehr als Lebens- denn als Lernort. Sie öffnen sich in den Stadtteil und vernetzen sich mit verschiedenen Partnern, binden die Eltern ein, setzen den Ganztag mit seinen vielfältigen Möglichkeiten um und zielen auf individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler. An solchen Schulen arbeiten Lehrerinnen und Lehrer in einem multiprofessionellen Team, und es finden sich sozial- und sonderpädagogische Kompetenzen ebenso wie innovative didaktische Konzepte. Festzustellen sei ein deutlicher Zusammenhang zwischen inklusiver Schule und der Möglichkeit, schwierige Ausgangslagen der Schülerinnen und Schüler aufzufangen. Der Anspruch inklusiver Bildung sei es, alle Schülerinnen und Schüler mit ihren Stärken und Schwächen anzunehmen und zu fördern. In der Bundesrepublik sollte die Entwicklung zu inklusiven Schulen deshalb weiter vorangetrieben werden.

Bildungsmonitoring als Instrument sozialer Gerechtigkeit

Wenn man soziale Disparitäten ausgleichen wolle, müssten die Bildungseinrichtungen in benachteiligten Stadtteilen besonders unterstützt werden. Das nach PISA eingerichtete Bildungsmonitoring biete vielfältige Möglichkeiten, um genau an dieser Stelle anzusetzen, werde jedoch noch zu wenig in diesem Sinne genutzt. Bildungsmonitoring sollte nicht nur Defizite einzelner Schulen aufdecken und Kompetenzwerte vergleichen. Vielmehr müssten auch Konsequenzen aus den gewonnenen Erkenntnissen erfolgen. Dazu gehöre, dass Schulen, die nach den Befunden des Monitorings als besonders sozial belastet gelten, Unterstützung erhalten: durch Hilfe bei der Schulentwicklung, mehr Personal, auf die Bedürfnisse der Schule zugeschnittene Fortbildungsangebote oder durch finanzielle Mittel für notwendige Um- und Ausbauten, beispielsweise um einen gebundenen Ganztagsbetrieb realisieren zu können.

Ausgleich von regional bedingten sozialen Ungleichheiten

Da Bildungsarmut und Armut in einem Zusammenhang stehen, könne mit guter Arbeit in guten Schulen viel bewirkt werden. In der Studie „Ungleiches Deutschland“ der Friedrich-Ebert-Stiftung werde aufgezeigt, dass Deutschland in Bezug auf Arbeitslosigkeit, Kinderarmut, kommunale Verschuldung und Bruttoinlandsprodukt immer weiter auseinanderdriftet. Deutlich werde, wie ungleich Wohlstand und Wachstum mittlerweile in Deutschland verteilt sind und dass ganze Regionen in Ost, West und Nord immer mehr von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt werden. In der Folge werden Lebensverhältnisse und Teilhabechancen regional deutlich heterogener und die grundgesetzliche Vorgabe der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse werde nicht erfüllt. Die Autoren der Studie „Ungleiches Deutschland“ schlagen deshalb eine Reform des Länderfinanzausgleichs vor, um die wachsende Kluft zwischen den Regionen überwinden zu können.

Bildungspolitik braucht Verbündete

Soziale Ungleichheit sei als ein gesellschaftliches Problem zu betrachten. Deshalb müsse die Politik die sogenannten Risikolagen von schlechten Bildungs- und damit Lebenschancen im Ursprung bekämpfen. Eine Abschwächung sozialer Disparitäten könne nur erreicht werden, wenn politikbereichsübergreifend gedacht und gehandelt wird. Bildungspolitik und Schule könnten dieses Problem nicht alleine lösen, sondern es bedürfe einer verstärkten Kooperation mit anderen Politikbereichen, etwa mit der Sozial- und Finanzpolitik.

Soziale Ungleichheit bzw. Chancengleichheit als Maßstab für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands

Chancengleichheit sei für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von großer Bedeutung, die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten seien maßgeblich für eine stabile Demokratie. Hier spiele das Bildungssystem eine Schlüsselrolle. Deshalb sei es ganz entscheidend, Maßnahmen zum Abbau sozialer Ungleichheiten zu ergreifen und dafür zu sorgen, dass sich die bereits vorhandenen sozialen Disparitäten nicht noch weiter verstärken. Eine Gesellschaft, in der die sozialen Ungleichheiten immer größer werden, sei nicht zukunftsfähig, wenn sie sich demokratischen Grundwerten verpflichtet sieht.