Fachpublikation

Ungleiche Bildungschancen. Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem

Thema

Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem

Herausgeberschaft

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Hg.)

Erscheinungsjahr

2020

Stiftungsengagement

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Initiative von Stiftung Mercator, VolkswagenStiftung, Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband und Vodafone Stiftung Deutschland)

Literaturangabe

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Hg.): Ungleiche Bildungschancen Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem, akt. Fassung, 8. April 2020.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Die vorliegende Publikation wurde vom "Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration“ herausgegeben, der 2008 von acht Stiftungen als „unabhängiges und wissenschaftliches Gremium“ gegründet wurde, um Fragen der Integration und Migration zu erforschen. Auf Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung beteiligten sich auch die Bertelsmann-, die Freudenberg-, die Hertie-, die Körber-, die Vodafone- und die Zeit-Stiftung an der Gründung. Der SVR ist ein interdisziplinär besetztes Expertengremium, das die Politik handlungsorientiert berät und der Öffentlichkeit sachliche Informationen zur Verfügung stellt. Die neun Sachverständigen legen jährlich ein Jahresgutachten vor und beziehen zu aktuellen Entwicklungen in den Bereichen Integration und Migration Stellung. 

Ausgangspunkt der Publikation ist, dass Bildung ein Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe ist. Allerdings sind die Bildungschancen in Deutschland nach wie vor ungleich verteilt, was insbesondere für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund gilt.

In einem Faktenpapier hat der Sachverständigenrat für Integration und Migration die zentralen Befunde zur Bildungsbenachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund zusammengestellt, indem verschiedene Datenquellen, Schulleistungsstudien und wissenschaftliche Untersuchungen ausgewertet wurden (umfangreiche Quellenbelege im Originaltext).

 

Wichtige Ergebnisse

Wichtige Ergebnisse

Im Folgenden werden die Ergebnisse verschiedener Studien zur Bildungsbenachteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund dargestellt.

1. Baustelle Bildung: leichte Fortschritte, neue Herausforderungen

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund

  • besuchen seltener eine Kita,
  • sind an Hauptschulen überrepräsentiert und an Gymnasien unterrepräsentiert,
  • haben geringere mathematische, sprachliche sowie naturwissenschaftliche Kompetenzen in der frühkindlichen und schulischen Bildung gegenüber Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund,
  • zeigen auch in der beruflichen Bildung und im Studium Benachteiligungen.

Menschen mit Migrationshintergrund sind aber nicht grundsätzlich bildungsbenachteiligt:

  • Bei gleichem Bildungshintergrund der Eltern und gleicher sozioökonomischer Lage erzielen Jungen und Mädchen aus bestimmten Herkunftsgruppen (z.B. der spanischen oder vietnamesischen) sogar überdurchschnittlich gute Ergebnisse.
  • Bei einzelnen Gruppen (z.B. türkische Herkunftsgruppe) scheinen neben dem Bildungshintergrund und der sozioökonomischen Lage der Familie auch andere Faktoren den Bildungserfolg zu hemmen, wie etwa die mangelnde Kenntnis des deutschen Bildungssystems und die Dominanz der Herkunftssprache innerhalb der Familie.

Vielfalt ist inzwischen ein Normalfall:

  • Bundesweit haben 33,6 Prozent der Neuntklässler*innen eine Zuwanderungsgeschichte, wobei der Anteil zwischen den Ländern stark variiert (9,4 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern, fast 50 Prozent in Bremen).
  • In den Jahren 2015 und 2016 waren mehr als 30 Prozent der Asylantragsteller*innen unter 18 Jahre alt und hatten somit das Recht bzw. die Pflicht, eine Schule oder – im Falle der Ein- bis Sechsjährigen – eine Kindertagesbetreuung zu besuchen.
  • In den Jahren 2017 und 2018 waren sogar 45 bzw. 48 Prozent der Asylantragsteller*innen unter 18 Jahre alt. Zudem waren 15 Prozent der Asylsuchenden im Jahr 2018 zwischen 18 und 25 Jahre alt und damit im Ausbildungs- bzw. Studieralter.

Aus diesen Ergebnissen kann abgeleitet werden, dass das deutsche Bildungssystem auch weiterhin vor der Aufgabe steht, Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und daraüber hinaus mehrere Hunderttausend junge Geflüchtete für das Leben und die Arbeitswelt in Deutschland zu qualifizieren. Dabei ist festzustellen, dass die Lernausgangslagen der jungen Menschen äußerst heterogen sind.

2. Frühkindliche Bildung

Im Bereich der frühkindlichen Bildung hat die Politik mit verschiedenen Maßnahmen versucht, die Betreuungsquoten von Kindern mit Migrationshintergrund stärker an diejenigen von Kindern ohne Migrationshintergrund anzugleichen, etwa mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2005, der Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz im Jahr 2013 sowie durch großflächige Reformen im Rahmen des sog. Gute-KiTa-Gesetzes von 2019. Trotzdem zeigt sich, dass die Unterschiede in den letzten Jahren stabil geblieben und zuletzt sogar leicht angestiegen sind.

  • Bei den drei- bis sechsjährigen Kindern ohne Migrationshintergrund liegt die bundesweite Betreuungsquote seit 2013 konstant zwischen 96 und 100 Prozent (Vollbetreuung); bei den gleichaltrigen Kindern mit Migrationshintergrund ist die Betreuungsquote 2015 auf 90 Prozent gestiegen, dann wieder gesunken (2019: 81 Prozent).
  • Bei den unter Dreijährigen zeigen sich ebenfalls deutliche Unterschiede: Bei Kindern ohne Migrationshintergrund wurde die von der Politik angestrebte Betreuungsquote von 33 Prozent bereits frühzeitig erreicht bzw. überschritten (2019: im Bundesdurchschnitt 42 Prozent). Bei Gleichaltrigen mit Migrationshintergrund liegt die bundesweite Betreuungsquote seit 2015 konstant zwischen 20 und 22 Prozent und damit deutlich unter der politischen Zielmarke von einem Drittel. In den ostdeutschen Ländern (inklusive Berlin) wurden unter Dreijährige mit Migrationshintergrund zwar etwas häufiger betreut als in den westdeutschen Ländern, doch fällt der Abstand zur Betreuungsquote von Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund sehr hoch aus. Große Unterschiede zeigen sich auch in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, etwas geringere in den süddeutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern.

Die Tatsache, dass die Betreuungsquote von Kindern mit Migrationshintergrund je nach Altersgruppe gesunken ist oder stagnierte, sollte im Gesamtkontext gesehen werden: Seit 2015 sind mehrere Hunderttausend Kinder unter sechs Jahren nach Deutschland zugewandert.

Die absoluten Betreuungszahlen in Tageseinrichtungen zeigen, dass sich dennoch einiges verändert hat:

  • Seit 2015 ist die Anzahl der Betreuungsplätze für drei- bis sechsjährige Kinder um 8 Prozent auf 2,1 Millionen gestiegen.
  • Bei den unter Dreijährigen zeigt sich ein noch deutlicherer Anstieg um knapp 16 Prozent auf inzwischen über 687.000 Betreuungsplätze.

Der quantitative Ausbau geht allerdings nicht mit einer weiteren Angleichung der Inanspruchnahme der Kitabetreuung zwischen Familien mit und ohne Migrationshintergrund einher. Vielmehr sind diese Unterschiede wieder gewachsen. Dafür werden mehrere Gründe benannt: steigende Geburtenzahlen, erhöhte Zuwanderung in den letzten Jahren, geringerer Zugang aufgrund von mangelnder Systemkenntnis oder Bedarf nach einer Kita in Wohnortnähe.

  • Kinder mit Migrationshintergrund besuchen häufiger segregierte Kindertageseinrichtungen (in Wohnortnähe), d.h. solche, in denen mindestens 50 Prozent der Kinder eine nichtdeutsche Herkunftssprache haben; damit haben diese Kinder im Alltag auch weniger Gelegenheit, Deutsch zu sprechen, zu hören und zu lernen und es dadurch zum Beispiel auch schwerer, naturwissenschaftliche Kompetenzen zu erwerben.

Empfehlung:

Systematische Sprachförderungsmaßnahmen sollten bereits in der Kindertageseinrichtung ansetzen, um Bildungsungleichheiten von Beginn an zu reduzieren und es den Kindern leichter zu machen, im Bildungsverlauf weitere Kompetenzen zu erwerben.

3. Schulische Bildung

3.1 Schulbesuch und Schulabschluss

Bei der Verteilung auf die Schulformen zeigen sich weiterhin stabile Unterschiede zwischen jungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund:

  • Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen überdurchschnittlich häufig eine Hauptschule, insbesondere jene, die im Kindes- oder Jugendalter nach Deutschland gekommen sind.
  • Der Anteil der Jugendlichen der ersten Zuwanderergeneration, die eine Hauptschule besuchen, hat sich aber deutlich verringert: Während im Jahr 2017 noch jeder fünfte Jugendliche der ersten Zuwanderergeneration eine Hauptschule besuchte, war es im Jahr 2018 nur noch jeder siebte.
  • Auch innerhalb der zweiten, in Deutschland geborenen Zuwanderergeneration, hat sich die Hauptschulquote im Vergleich zu den letzten Jahren weiter verringert: Während sie 2013 noch bei 13,5 Prozent und 2017 bei 8,9 Prozent lag, sank der Wert im Jahr 2018 auf 6,8 Prozent. Ähnlich verhält es sich bei den Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund.

Deutlich wird: Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen – trotz abnehmender Tendenz – im Vergleich zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund noch immer deutlich häufiger eine Hauptschule. Insgesamt werden Hauptschulen seitens der Eltern zunehmend abgelehnt, was vor allem darauf zurückgeführt wird, dass Hauptschüler*innen immer geringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben. Die in vielen Bundesländern eingeführten Schularten mit mehreren Bildungsgängen sowie die integrierten Gesamtschulen tragen außerdem dazu bei, den Bestand der Hauptschulen zu verringern.

  • Der Anteil der integrierten Gesamtschulen hat sich zwischen 2006 und 2016 um 10 Prozent erhöht. Bei den Schularten mit mehreren Bildungsgängen zeigte sich in diesem Zeitraum ein Anstieg um 6 Prozent.
  • Im gegenläufigen Trend hat sich die Anzahl der Hauptschulen zwischen 2008 und 2018 mehr als halbiert und ist damit im Gesamtanteil um knapp 9 Prozent niedriger als 2008.

Der Trend zu integrierten Schulformen hat in jüngster Zeit auch den langanhaltenden Drang zum Gymnasium bei allen Schülerinnen und Schülern leicht abgeschwächt.

  • So besuchten im Jahr 2018 39,4 Prozent (2017: 41,1 Prozent) aller 11- bis 14-Jährigen ohne Migrationshintergrund ein Gymnasium.
  • Dieser moderate Rückgang zeigt sich auch bei Jugendlichen der ersten und zweiten Zuwanderergeneration: 2018 besuchten 34,3 Prozent der Jugendlichen der zweiten Zuwanderergeneration Gymnasien (2017: 35,3 Prozent).
  • Auch bei Gleichaltrigen mit eigener Migrationserfahrung war die Gymnasialquote 2018 mit 20,6 Prozent im Vergleich zum Jahr 2017 (23,8 Prozent) niedriger.

Die Abkehr von der Hauptschule spiegelt sich auch in den erreichten Schulabschlüssen wider.

  • Der Anteil der 21- bis 30-Jährigen mit Migrationshintergrund, die einen Hauptschulabschluss erworben haben, sank zwischen 2005 und 2017 von 33,9 auf 19,6 Prozent. Bei Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund fiel der Anteil im selben Zeitraum von 19,4 auf 13,9 Prozent. Somit haben sich die Unterschiede bei den niedrig qualifizierenden Abschlüssen zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund in den letzten Jahren verringert.
  • Bei den Schulabbruchquoten zeigen sich weiterhin sehr große Unterschiede: Die Schulabbruchquoten sind bei den 21- bis 30- Jährigen mit Migrationshintergrund (8 Prozent) mehr als fünfmal so hoch wie bei Personen ohne Migrationshintergrund (1,5 Prozent).

Festgestellt wird, dass sich der Schulbesuch für Geflüchtete etwas komplizierter als für einheimische Kinder und Jugendliche gestaltet: In dem föderal strukturierten Schulsystem Deutschlands entscheiden während oder nach einem Asylverfahren die Landesverfassungen und Schulgesetze der Bundesländer darüber, ab wann die Schule besucht werden darf bzw. muss. Laut EU-Aufnahmerichtlinie (Art. 14 Abs. 2, RL 2013/33/EU) müsse ein Schulzugang zwar spätestens drei Monate nach der Asylantragsstellung gewährt werden, doch dauere es in vielen Bundesländern deutlich länger. Die meisten Länder würden einen Schulbesuch erst dann vorsehen, wenn die geflüchteten Kinder und Jugendlichen im jeweiligen Bundesland wohnhaft sind und davon ausgegangen werden kann, dass sie zumindest im folgenden Schuljahr eine Schule vor Ort besuchen. Zu welchem Zeitpunkt ein solcher „gewöhnlicher Aufenthalt“ und damit die Schulpflicht beginnt, unterscheide sich von Land zu Land.

3.2. Schulische Kompetenzen

Auslöser des sog. PISA-Schocks im Jahr 2001 sei unter anderem gewesen, dass die Studie in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften signifikante Leistungsunterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund belegte. Diese Unterschiede bestünden nun fast 20 Jahre nach der ersten PISA-Studie weiter fort, auch wenn sich diese bis 2015 zunächst zumindest punktuell verringert haben oder gleich geblieben sind.

  • Die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen sind 2018 bei allen Jugendlichen zurückgegangen. Dieser Rückgang zeigt sich auch bei den Lesefähigkeiten, die im Jahr 2018 um 9 Kompetenzpunkte auf das Leistungsniveau von 2009 gesunken sind.
  • Jugendliche ohne Migrationshintergrund und Jugendliche aus der zweiten Zuwanderergeneration konnten zwar ihre Lesefähigkeiten um 10 bis 13 Kompetenzpunkte verbessern, bei den Jugendlichen der ersten Zuwanderergeneration sind die Leistungen im Vergleich zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund aber um 55 Kompetenzpunkte gesunken.

Die Anzahl der in PISA 2018 einbezogenen Jugendlichen mit eigener Zuwanderungserfahrung ist zwar nicht signifikant angestiegen, hat sich aber in der Zusammensetzung verändert, unter anderem durch Zuzüge aus Syrien, dem Kosovo und Rumänien zwischen 2015 und 2017. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass sich das Absinken der Leseleistungen durch die gewandelten Bedarfe der Schüler*innenschaft erklären lässt.

Entscheidend ist der sozioökonomische Hintergrund der Eltern

Deutlich wird, dass die Unterschiede durch den Migrationshintergrund sich verringern oder sogar verschwinden, wenn die soziale Herkunft bzw. der soziökonomische berufliche Status der Eltern, der Besitz von Wohlstandsgütern sowie die elterliche Bildungsdauer berücksichtigt werden. Die Lesekompetenz von Jugendlichen der zweiten Zuwanderergeneration unterscheidet sich dann nicht mehr signifikant von derjenigen von Jugendlichen ohne Zuwandererhintergrund. Daraus wird abgeleitet, dass die Unterschiede in den Kompetenzen mehrheitlich Effekte der sozialen Herkunft sind und nicht ursächlich mit der Zuwanderungserfahrung in Zusammenhang stehen. Die PISA-Studie zeigt auch, dass die zu Hause gesprochene Sprache entscheidend für die Lesekompetenz ist: Je mehr Deutsch im Haushalt gesprochen wird, desto höher ist die Lesekompetenz ausgeprägt.

Hoher Anteil an „Risikofällen“

Unter den Kindern mit Migrationshintergrund gibt es laut PISA-Studie 2018 weiterhin einen hohen Anteil von sogenannten Risikofällen, das heißt Schulkinder, die in den internationalen Schulleistungsuntersuchungen nicht das nötige Kompetenzniveau erreichen, um in den weiterführenden Schulen problemlos dem Unterricht folgen zu können.

  • Mehr als 25 Prozent aller Grundschulkinder mit Migrationshintergrund zählen im Kompetenzbereich Lesen zu den Risikofällen und können gelesenen Texten nur vereinzelt Informationen entnehmen.
  • In Mathematik und den Naturwissenschaften zählen sogar ein Drittel aller Kinder mit Migrationshintergrund zu den Risikofällen. Das bedeutet, dass diese Kinder am Ende der Jahrgangsstufe 4 nur einfache Additions- und Subtraktionsaufgaben lösen können, eine eingeschränkte räumliche Vorstellungskraft haben und kaum Grundwissen über die menschliche Gesundheit, die Tierwelt und die materiellen Eigenschaften von Wasser, Holz und Glas besitzen.

Geringere Leseleistungen

  • Laut PISA-Studie 2018 zeigen etwa 55 Prozent der Jugendlichen aus der ersten Zuwanderergeneration Leseleistungen auf den  untersten Kompetenzstufen. Dieser Anstieg um circa 20 Prozent gegenüber 2009 wird aktuell durch die oben beschriebene heterogene Entwicklung in der Schülerschaft erklärt.
  • Auch die mittlere Lesekompetenz der ersten Generation in Deutschland hat sich im Vergleich zu 2009 signifikant verschlechtert.
  • Bei den Jugendlichen der zweiten Zuwanderergeneration zeigt sich allerdings ein positiver Trend: Hier hat sich neben einer signifikanten Verbesserung der mittleren Lesekompetenz auch die Anzahl an lesestarken Jugendlichen erhöht – mittlerweile gehören 8 Prozent zu den Jugendlichen mit einem überdurchschnittlichen Leistungsniveau (5 Prozentpunkte mehr als 2009).

Insgesamt zeigt sich für den schulischen Bereich, dass das durchschnittliche Kompetenzniveau von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund trotz deutlicher Leistungssteigerung im Bereich der Lesekompetenz insbesondere bei Jugendlichen der zweiten Zuwanderergeneration weiterhin unter dem Kompetenzniveau von Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund liegt. Als Grund hierfür wird vor allem gesehen, dass Jungen und Mädchen mit Migrationshintergrund häufiger aus sozial benachteiligten Familienverhältnissen kommen und dort oft nicht die gleiche Unterstützung erfahren wie viele Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Die OECD (2019) ordnet Deutschland einer Reihe von Staaten zu, in denen Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund über vergleichsweise geringe sozioökonomische Ressourcen verfügen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Schulkinder mit Migrationshintergrund in der Schule seltener auf leistungsfördernde Lernumgebungen treffen als Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund. Laut OECD (2019) liegt Deutschland bei den lese- und sprachfördernden Gegebenheiten in Schulen (z.B. schuleigene Bibliotheken, Lese- und Debattierclubs, Organisation von Vorträgen von Journalistinnen und Journalisten oder Autoren und Autorinnen) deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Weiterhin lernen Kinder und Jugendliche besonders in deutschen Großstädten häufig an sogenannten segregierten Schulen, an denen überwiegend Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und sozialer Benachteiligung unterrichtet werden. Dabei hat der Zuwandereranteil an einer Schule für sich allein genommen keinen leistungshemmenden Effekt. Als entscheidend werden vielmehr die soziale Zusammensetzung und insbesondere das durchschnittliche Lernniveau im Klassenzimmer gesehen. Da Letzteres an segregierten Schulen häufig niedriger ausfällt, könne eine zunehmende Entmischung dazu führen, dass sich ungleiche Bildungschancen weiter verschärfen. Die wachsende Anzahl integrierter Schulformen könnte dazu beitragen, dieser Segregation entgegenzuwirken.

4. Berufliche Bildung

Nach der Schule stehen jungen Menschen je nach ihrem Abschluss verschiedene Ausbildungswege offen. Ein Großteil der Jugendlichen entscheidet sich für eine betriebliche duale Ausbildung oder ein Hochschulstudium. Auf der anderen Seite findet ein beträchtlicher Teil der Schulabgängerinnen und Schulabgänger zunächst keine Ausbildungsstelle und nimmt an Maßnahmen des sogenannten Übergangssystems teil, die darauf abzielen, junge Menschen ohne Ausbildungsstelle mittelfristig in Ausbildung zu bringen.

Jugendliche mit Migrationshintergrund beginnen weiterhin weniger häufig und zu einem späteren Zeitpunkt eine Berufsausbildung als Jugendliche ohne Migrationshintergrund:

  • Im Jahr 2018 traten von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die sich vorab bei der Bundesagentur für Arbeit als ausbildungsinteressiert gemeldet hatten, 36 bzw. 37 Prozent eine duale Ausbildung an – etwa ein Drittel weniger als Ausbildungswillige ohne Migrationshintergrund (53 Prozent).

Bei den Angeboten des Übergangssystems unterscheiden sich die Beteiligungsquoten insgesamt weniger deutlich.

  • Die Quoten einzelner Übergangsmaßnahmen zeigen, dass Personen mit fluchtunabhängigem bzw. ohne Migrationshintergrund häufiger an schulischen, teilqualifizierenden Angeboten teilnahmen als Personen mit Migrations- und Fluchthintergrund.
  • Personen mit Migrations- und Fluchthintergrund nahmen hingegen häufiger praxisorientierte Angebote der betrieblichen Einstiegsqualifizierung wahr.
  • Anstatt eine duale Ausbildung aufzunehmen, befanden sich Ausbildungswillige mit Migrationshintergrund zudem häufiger in niedrig qualifizierter Beschäftigung oder auf Arbeitssuche als diejenigen ohne Migrationshintergrund.

Im Zuge der gestiegenen Fluchtzuwanderung nach Deutschland ist die Herausforderung hinzugekommen, dass geflüchtete Menschen mit einer Vielzahl an Einstiegshürden in das deutsche Ausbildungssystem zu kämpfen haben, die mit dem Alter, dem Aufenthaltsstatus oder dem Wohnort der Ausbildungswilligen zusammenhängen und zum Beispiel den Zugang zu einem Vorbereitungskurs an einer Berufsschule verwehren. Als erschwerend wird gesehen, dass Neuzugewanderte häufig zunächst keine Kenntnisse über das deutsche Ausbildungssystem haben, oft ein großes Lernpensum unter hohem Zeitdruck bewältigen müssen und zum Teil in menschlich und wohnräumlich widrigem Umfeld lernen.

5. Studium

Ob junge Menschen mit Migrationshintergrund ein Studium aufnehmen, entscheidet sich häufig schon in der Schule, wo sie durch die stetigen Selektionsprozesse überdurchschnittlich häufig eine Benachteiligung erfahren, unter anderem an den Übergängen zur nächsthöheren Schulform.

  • Dennoch hatten 2018 29,2 Prozent aller Studierenden an deutschen Hochschulen einen Migrationshintergrund, ein Plus um 3 Prozentpunkte gegenüber 2015.

Hierbei sollte unterschieden werden, ob es sich bei den Studierenden mit Migrationshintergrund um Personen handelt, die ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht haben (13,8 Prozent aller Studierenden) oder um Studierende, die selbst zugewandert sind, sei es zum Beispiel gezielt zum Studium in Deutschland (sog. internationale Studierende) oder aus Fluchtgründen (15,4 Prozent) (2020). Internationale Studierende stellen einen Sonderfall dar und werden bei der folgenden Darstellung nicht berücksichtigt.

  • Studierende mit Migrationshintergrund, die das deutsche Schulsystem erfolgreich durchlaufen haben, verfolgen oft höhere Bildungsziele als ihre Mitstudierenden ohne Migrationshintergrund. Dennoch besteht bei ihnen ein höheres Risiko, das Studium abzubrechen. So haben im Studienjahr 2016 knapp die Hälfte (46 Prozent) der Bachelorstudierenden mit Migrationshintergrund mit deutschem Schulabschluss ihr Studium abgebrochen; bei den Studierenden ohne Migrationshintergrund waren es nur 28 Prozent.
  • Zudem erzielen Studierende mit Migrationshintergrund im Schnitt schlechtere Prüfungsergebnisse, wie Untersuchungen in den Fachbereichen Jura, Medizin und Wirtschaftswissenschaften zeigen (2017).

Insgesamt kann die Bildungsbenachteiligung von Studierenden mit Migrationshintergrund zu großen Teilen durch die soziale Herkunft erklärt werden:

  • Mehr als die Hälfte von ihnen sind Bildungsaufsteiger*innen, die als Erste in ihrer Familie den Weg an die Hochschule geschafft haben. Dort sind sie zunächst auf sich gestellt, denn das Elternhaus kann meist weder genügend Geld noch eigene Studienerfahrungen beisteuern.
  • Zudem gelangen Studierende mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig auf Umwegen an die Hochschule und nehmen auch mit schlechteren Schulleistungen ein Studium auf, was sich unter anderem bei den sprachlichen Kompetenzen, also beim Lesen und Verstehen von Fachliteratur zeigt.
  • Studierende mit Migrationshintergrund haben zwar keine Probleme mit Deutsch als Alltagssprache, doch vielen von ihnen fällt es vergleichsweise schwer, wissenschaftliche Texte zu verstehen und in Seminaren anspruchsvolle fachliche Themen zu diskutieren. Das betrifft vor allem jene, die im Kindes- oder Jugendalter nach Deutschland zugewandert sind, also nicht von Anfang an in einem deutschsprachigen Umfeld aufgewachsen sind.

Zur Zahl der Geflüchteten an deutschen Hochschulen gibt es bislang noch keine flächendeckenden Erhebungen. Das Interesse an einem Studium in Deutschland ist jedoch groß.

  • In den Jahren 2016 bis 2018 haben Hochschulen bundesweit mehr als 145.000 geflüchtete Studieninteressierte und Studierende zu Themen rund um das Studium in Deutschland beraten.
  • Mehr als 25.000 Flüchtlinge haben im gleichen Zeitraum an studienvorbereitenden Maßnahmen teilgenommen.
  • Bis zum Wintersemester 2018/19 sind jedoch nur etwa 10.000 von ihnen im regulären Studium angekommen (HRK 2019).

Trotz dieser vergleichsweise niedrigen Einmündungszahlen stellen zahlreiche Studien fest, dass die Mehrzahl der Geflüchteten hohe Bildungsziele hat, die oft auch ein Studium beinhalten bzw. zu diesem berechtigen.

Die Studiennachfrage von Geflüchteten dürfte in den kommenden Jahren hoch bleiben: 2017 mussten die Hochschulen und Studienkollegs jede zweite Bewerbung auf Vorbereitungskurse ablehnen, meist weil es nicht genügend Plätze gab oder die Bewerberinnen und Bewerber sprachlich und fachlich (noch) nicht hinreichend qualifiziert waren. Im Gegensatz zu anderen internationalen Studierenden haben Flüchtlinge sich im Ausland in der Regel nicht auf ein Studium in Deutschland vorbereitet. Doch viele der Studieninteressierten nehmen auch diese Hürde, sie verbessern zwischenzeitlich ihre Deutschkenntnisse und versuchen es im kommenden Jahr erneut. Im Schnitt dauert es zwei Jahre, bis geflüchtete Studieninteressierte im regulären Studium ankommen (DAAD 2018).