Studie

Unterstützungsangebote für Schulen in herausfordernden Lagen

Thema

Maßnahmen an Schulen für mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem

Herausgeberschaft

Wübben Stiftung (Hg.)

Autoren/Autorinnen

Thomas Orthmann/Simone Wans; Autor der wissenschaftlichen Studie: Pierre Tulowitzki, unter Mitarbeit von Ella Grigoleit/Jennifer Haiges/Imke Hinzen

Erscheinungsort

Düsseldorf

Erscheinungsjahr

2020

Stiftungsengagement

Wübben Stiftung

Literaturangabe

Wübben Stiftung (Hg.): impaktmagazin. Unterstützungsangebote für Schulen in herausfordernden Lagen. Düsseldorf 2020.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass sich die familiäre Herkunft auf die Bildungschancen im deutschen Schulwesen auswirkt und von diesem sogar noch verstärkt wird. Eine Vielzahl von Studien weise immer wieder darauf hin. Ungerecht sei das vor allem für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien. Auch schon vor der Corona-Krise sei das Schulwesen stark verbesserungswürdig gewesen. Um den Anspruch zu erfüllen, alle Schüler*innen bestmöglich auf das Leben vorzubereiten, verfügten gerade Schulen in sozialräumlich schwierigen Lagen nicht über die dafür notwendigen Voraussetzungen. Durch die Krise seien die Defizite und der Reformbedarf für alle sichtbar hervorgetreten: In der öffentlichen Debatte oft als „Brennpunktschulen“ bezeichnete Schulen stünden vor besonderen Herausforderungen und benötigten deshalb mehr und andere Unterstützungsleistungen durch Politik und Verwaltung.

In der Publikation der Wübben-Stiftung wird zunächst ein bundesweiter Überblick über die Förderung von diesen „Schulen in herausfordernder Lage“ gegeben. Dieser Beitrag wurde vom Wissenschaftsautor Dr. Thomas Orthmann verfasst und basiert auf einer gemeinsamen Studie bzw. Expertise der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz und der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg unter Leitung des Schulentwicklungsforschers  Prof. Dr. Pierre Tulowitzki. In der Publikation enthalten ist auch ein Überblick über die Förderprogramme für Schulen in herausfordernder Lage (ländereigene und länderübergreifende Förderprogramme). Auch ein Unterstützungsprogramm für Schulleitungen von Schulen in herausfordernder Lage wird vorgestellt.

Wichtige Ergebnisse

Wichtige Ergebnisse

Bildungsgerechtigkeit als Herausforderung des deutschen Bildungssystems

Bildungsgerechtigkeit könne noch immer als größte Herausforderung im deutschen Bildungssystem gelten: Von der Kita über Schule bis hin zu Studium und Ausbildung sei festzustellen, dass die Bildungschancen in Deutschland ungleich verteilt sind. Wer in einer bildungsfernen, sozioökonomisch schwachen Familie aufwächst, einen Migrationshintergrund hat und vielleicht noch in einem sogenannten sozialen Brennpunkt lebt, sei von gerechter Bildungsteilhabe in der Regel weit entfernt. Schon einer dieser Lebensumstände könne ausreichen, um mit deutlich geringeren Bildungschancen ins Leben zu starten. Durch die Corona-Pandemie werde dies noch verstärkt.

Schulen in herausfordernder Lage

Auf der Suche nach Lösungen stehen vor allem Schulen im Fokus, die sich in Regionen und Stadtteilen befinden, in denen sich Problem- und Risikolagen häufen und in denen viele Menschen aus benachteiligten Milieus leben. Hier treffen schwierige Sozialstrukturen und nachteilige Familiensituationen aufeinander. Soziale Segregation, hohe Arbeitslosigkeit, Armut und ein weit überdurchschnittlicher Anteil an Bewohner*innen mit Migrationshintergrund prägen auch die Schulen darin. Deshalb müssten gerade diese Schulen besonders unterstützt werden. Diese Schulen werden im Folgenden als „Schulen in herausfordernder Lage“ bezeichnet, wobei Lage nicht primär die räumliche Zuordnung meint, sondern die individuelle Situation.

Schulen in herausfordernder Lage stellen höchste Anforderungen an Ausstattung und Personal. Sie benötigen eine individuelle und bedarfsgerechte Unterstützung. Doch erst seit etwa zehn Jahren gibt es verstärkt Förderprojekte und Initiativen, die sich gezielt dieser Aufgabe stellen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Schulen in herausfordernder Lage durch die Politik unterstützt werden.

Laut Untersuchung zeigt sich: Der Ansatz, Schulen in herausfordernder Lage individuell zu fördern, sei vielversprechend. Besondere Problemlagen bräuchten besondere Maßnahmen. Allgemeine Förderkonzepte, die auf ganze Schulformen oder einzelne Bildungsstufen ausgerichtet sind, würden an den tatsächlichen Bedarfen von Schulen in herausfordernder Lage vorbeigehen. Dort fehle es häufig schon an Grundlegendem, wie zum Beispiel ausreichend (qualifizierten) Lehrkräften, zusätzlichem schulischen Personal (z.B. für Sozialarbeit und pädagogische Betreuung) oder einer intakten Schulinfrastruktur – von einer besonderen Förderung sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler ganz zu schweigen.

Zentrale Thesen:

  • Schulen in herausfordernder Lage leiden nicht nur an einem grundsätzlichen Lehrermangel, sondern auch an einem Mangel an regulär qualifizierten Lehrkräften.
  • Schulen in herausfordernder Lage sind kein Phänomen der Städte oder Metropolen.
  • Schulen in herausfordernder Lage müssen eindeutig identifiziert werden.
  • Transparenter und aufgeklärter Umgang hilft Stigmatisierung zu vermeiden.
  • Es fehlt bisher noch an konkreten Erkenntnissen zur wirksamen Unterstützung von Schulen in herausfordernder Lage.
  • Schulen in herausfordernder Lage werden in Deutschland nicht einheitlich gefördert, sondern in einer breiten Spanne von Projekten, Maßnahmen und Finanzierungsarten.

Schulen in herausfordernder Lage – ein Länderproblem?

Schulen in herausfordernder Lage werden in vielen Bundesländern nur unzureichend gefördert. In manchen Bundesländern gibt es weder Förderprogramme noch einen eigenen Namen für Schulen mit besonderem Unterstützungsbedarf.

In fast der Hälfte der Bundesländer scheint es keine Schulen in herausfordernder Lage zu geben, wenn die ländereigenen Förderprogramme betrachtet werden. Zwar existierten in allen Bundesländern Programme zur generellen Unterstützung und Entwicklung von Schulen, doch sei das bei Programmen zur gezielten Unterstützung von Schulen in herausfordernder Lage anders: In einer Reihe von Ländern gebe es keine entsprechenden Programme oder Initiativen. Dazu zählen Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (Stand: Frühjahr 2020). In einigen der ostdeutschen Bundesländer werden jedoch Programme zur Unterstützung von Schulen in herausfordernder Lage über den Europäischen Sozialfonds gefördert.

Laut Forschung gebe es aber kein Bundesland ohne Schulen in herausfordernder Lage. Ein Fehlen entsprechender Fördermaßnahmen sei somit Ausdruck vorhandener Defizite. Dort, wo gefördert werde, seien die Projekte und Maßnahmen häufig zweckorientiert. Mitunter gebe es eine primäre Ausrichtung auf bestimmte Zielgruppen (z B. Schulleitungen), dann aber zumeist als Teil eines umfassenderen Förderziels. Zu den zentralen Förderzielen gehören:

  • Schulentwicklungsprozesse verbessern
  • bedarfsgerechte Unterstützungsangebote entwickeln
  • Messbarkeit des Lernerfolgs verbessern
  • Bildungsbenachteiligung reduzieren
  • Quote der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher verringern
  • individuelle Potenziale der Schülerinnen und Schüler fördern
  • Schule wirksam und nachhaltig weiterentwickeln

In einigen der Projekte ist den Schulen freigestellt, wie sie ihre Entwicklungsziele erreichen wollen – sei es durch zusätzliche Lehrkraftstunden, mehr Ganztagsbetreuung oder eine intensivere Schulsozialarbeit. Zu den häufigsten Unterstützungsmaßnahmen gehören ein verbesserter Personalschlüssel oder Stundenentlastungen für Lehrkräfte. Darüber hinaus bieten die Projekte bedarfsgerechte Maßnahmen wie die Zuweisung von Geldmitteln, Fortbildungsangebote, Schulentwicklungsberatung, Trainings und Coachings oder den Einsatz von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.

Es gibt zahlreiche ländereigene und länderübergreifende/bundesweite Förderprogramme in diesem Themenbereich (Darstellung in der Publikation).

Bildung und Corona – Die Krise in der Krise

Festgestellt wird, dass es Schulen in herausfordernder Lage schwerer als andere Schulen, da sie alle Probleme und Belastungen der übrigen Schulen erfahren, diese aber unter schwereren Bedingungen meistern müssen. Das gelte insbesondere für die Corona-Pandemie, die neben einer gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krise eine immense Bildungskrise nach sich zieht. Eine so lange Zeit ohne Präsenzunterricht könne dramatische Folgen haben, besonders für Schülerinnen und Schüler der Schulen in herausfordernder Lage.

Mehrere Studien würden zeigen, dass Kinder und Jugendliche nach den Ferien messbar schlechtere Leistungen in Kompetenzbereichen erzielen, die hauptsächlich in der Schule gefordert werden. Dazu zählen Rechtschreibung und Mathematik, aber auch logisches Denken und kognitive Fähigkeiten. Dieser sogenannte „Ferieneffekt“ sei besonders stark bei Schülerinnen und Schülern ausgeprägt, die in einem bildungsfernen Elternhaus leben bzw. aus sozioökonomisch schwachen Milieus stammen und/oder einen Migrationshintergrund haben. Außerhalb von Schule werden sie oft wenig oder gar nicht gefördert bzw. gefordert. Familien in benachteiligten Lagen stünden in der Regel auch nur geringe Ressourcen zur Verfügung, um Benachteiligungen oder Lerndefizite zu kompensieren. Schwierige Wohnverhältnisse beeinträchtigten häufig auch die Möglichkeit, zu Hause zu lernen. Die gute Nachricht sei, dass sich ferienbedingte Defizite in der Regel nach einigen Wochen Schule wieder ausgleichen lassen – allerdings nach einigen Wochen Ferien. Noch nicht absehbar seien die Auswirkungen, wenn die Schüler*innen mehrere Monaten ohne Präsenzunterricht auskommen müssen.

  • Die pandemiebedingte, erste Homeschooling-Phase habe nach Einschätzung vieler Lehrkräfte zu einem Lerneinbruch bei den Schülerinnen und Schülern geführt, u.a. nach den Ergebnissen einer Umfrage des Instituts für Schulentwicklung (IFS) an der TU Dortmund, in der 3.600 Lehrkräfte aller Schulformen zum Homeschooling befragt wurden. 79 Prozent von ihnen gaben an, dass ihre Schülerinnen und Schüler in vielen Fächern weniger gelernt hätten als während des Regelunterrichts.
  • 90 Prozent der Lehrkräfte zeigten sich überzeugt, dass sich die sozial bedingten Ungleichheiten durch den Schul-Lockdown verstärkt haben. Ein möglicher Grund dafür sei die fehlende Erreichbarkeit, so der Befund einer repräsentativen Lehrkräfte-Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, durchgeführt von der Universität Paderborn. Demnach gelang es nur etwa einem Drittel der deutschen Lehrkräfte, während der Zeit des Fernunterrichts Kontakt zu sämtlichen Schülerinnen und Schülern zu halten.
  • Weitere Studien zeigten, dass es auch milieubedingte Unterschiede hinsichtlich der Lernmotivation, der häuslichen Bedingungen sowie der Unterstützungsmöglichkeiten durch die eigene Familie gegeben hat.

Neustart vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie

Im Schuljahr 2020/21 werde es um weitaus mehr gehen als die Aufarbeitung fachlicher Defizite. Auch das, was Unterricht überhaupt erst ermögliche, stehe auf dem Spiel, etwa gewohnte Abläufe im Schulalltag, feste Unterrichtsstrukturen oder schulkulturelle Vereinbarungen. Nach Monaten des schulischen Ausnahmezustands müssten diese wieder neu eingeübt werden. Eine besondere Herausforderung liegt vor diesem Hintergrund im Neustart unter Corona-Bedingungen, da jetzt auch noch Abstandsregeln, Hygienevorgaben und Schutzmaßnahmen wie das Tragen einer Maske einzuhalten sind.

Schulen in herausfordernder Lagen seien nun mit weiteren Herausforderungen konfrontiert. Zum bestehenden Defizit an personellen und materiellen Ressourcen addierten sich nun noch die Folgen der Krise. Die durch individuelle Risikolagen bedingte Bildungslücke bei benachteiligten Kindern und Jugendlichen werde größer. Für das bildungspolitische und auch gesellschaftliche Ziel „Chancengerechtigkeit“ bedeute Corona somit einen Rückfall.

Unterstützung für Schulen in herausfordernder Lage:

  • Schulen in herausfordernder Lage müssten mit ausreichend qualifiziertem Personal ausgestattet werden. Das beinhalte kompetente Schulleitungen, pädagogisch geschulte Lehrkräfte (möglichst mit Vollstudium), Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, sonderpädagogisches Personal sowie weitere Fachkräfte.
  • Darüber hinaus brauche es ausreichend finanzielle und fachliche Ressourcen, um gerade Schülerinnen und Schüler aus sozioökonomisch schwachen Milieus digitales Lernen – und damit den Unterricht daheim – zu ermöglichen.

Bisher sei es in den Programmen und Projekten um individuelle Schulentwicklung und positive Ansätze für Schulen in herausfordernder Lage gegangen. Nun gelte es für viele Schulen, überhaupt erst mal den Normalbetrieb wieder herzustellen. Zudem müssen benachteiligte Schülerinnen und Schüler den Anschluss wiederfinden. Dabei helfen könnten spezielle Fördermaßnahmen wie die „Hamburger Lernferien 2020“, die Berliner „Sommerschule 2020“ (Sonderunterricht für mehr als 10.000 benachteiligte Kinder und Jugendliche), das Ferienangebot der Universitätsallianz Ruhr (UA Ruhr) etc.

Eine Fördermaßnahme auf Länder- und Bundesebene ist die Aufstockung des Digitalpakts Schule. Mit zusätzlichen 500 Millionen Euro sollen Tablets, Laptops und Computer für benachteiligte Schülerinnen und Schüler angeschafft werden. Damit die digitalen Endgeräte aber auch zum Lernen genutzt werden können, brauche es noch mehr: Neben einer verbesserten Medienkompetenz nenne der Bildungsbericht 2020 hier vor allem die Schaffung professionell ausgewählter und begleiteter digitaler Lehr- und Lern-Gelegenheiten. Ohne diese werde der Einsatz digitaler Medien die Bildungsungerechtigkeit noch verstärken. Für die Gestaltung solcher digitalen Lehr- und Lerngelegenheiten müssten dringend Konzepte entwickelt werden. Das dürfe nicht alleinige Aufgabe der Schulen sein. Vielmehr müssten Kultusministerien, Landesinstitute und auch Hochschulen nach praktikablen Lösungen suchen, um gerade an Schulen in herausfordernder Lage die Lernbedingungen zu verbessern. Langfristig brauche es dann wirksame Maßnahmen, damit Schülerinnen und Schüler in geeigneter Umgebung selbstständig lernen können. Schule sei schließlich nicht nur Lernort, sondern ein sozialer Ort, ein Lebensraum, an dem Kinder und Jugendliche sich treffen, an dem es neben Ordnung, Strukturen und zugewandten Erwachsenen für viele auch eine warme Mahlzeit gibt. An diesen Aspekten fehle es nicht selten zuhause. Entsprechend mussten die Schülerinnen und Schüler während des Homeschoolings auf weit mehr verzichten als nur den Unterricht. Das illustrierten auch die ersten Ergebnisse der bundesweiten JuCo-Studie zu den Erfahrungen junger Menschen während der Corona-Pandemie: Demnach habe der fehlende direkte Kontakt zu Freundinnen und Freunden, fehlende Alltagsstrukturen oder auch das Gefühl, nicht gehört zu werden, viele Jugendliche ebenso belastet wie teils schwierige familiäre Verhältnisse und finanzielle Sorgen. Selbst unter Jugendlichen mit guten sozialen Kontakte fühlten sich viele verunsichert, überfordert oder einsam. Mit Blick auf Schulen in herausfordernder Lage bedeute das, dass Fördermaßnahmen, die sich aufs Lehren und Lernen fokussieren, nicht ausreichen. Sozialarbeit, schulisches Umfeld und grundlegende Alltagsbedürfnisse (wie Essen, körperliche Bewegung und Entspannen) müssten Teil der Unterstützungsmaßnahmen sein. Gelingt das nicht, werde die aktuelle Bildungskrise für viele Kinder und Jugendliche zur persönlichen Bildungskatastrophe.