Studie

Whitepaper zur Investition in die frühe Kindheit: Fokus volkswirtschaftlicher Nutzen

Thema

Positive Auswirkungen auf die Volkswirtschaft durch Investitionen in frühkindliche Bildung

Herausgeberschaft

Jacobs Foundation (Hg.)

Autoren/Autorinnen

Andreas Balthasar/Manuel Ritz

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2020

Stiftungsengagement

Jacobs Foundation

Literaturangabe

Andreas Balthasar/Manuel Ritz: Whitepaper zur Investition in die frühe Kindheit: Fokus volkswirtschaftlicher Nutzen. Zürich: Jacobs Foundation 2020.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Hintergrund ist, dass die ersten Lebensjahre eines Kindes entscheidend für dessen weitere Entwicklung zu sehen sind. Deshalb sollten die Rahmenbedingungen in diesem Lebensabschnitt nach Auffassung der Jacobs Foundation so gestaltet sein, dass sie Chancengerechtigkeit für jedes Kind gewährleisten und es in die Lage versetzen, sein Potenzial zu entfalten. Jedes Kind sollte schon vor dem Schuleintritt in seiner Entwicklung unterstützt werden, weil damit langfristige Vorteile verbunden sind: für das Kind in Bezug auf Bildung und seine persönliche und berufliche Entwicklung, für die Eltern in Bezug auf den Zugang zum Arbeitsmarkt und das Lohneinkommen und schließlich auch für den Staat selbst.

Eine Politik der frühen Kindheit sollte sich dafür einsetzen, dass Kinder von ihrer Geburt bis zu ihrem vierten Lebensjahr ihre Möglichkeiten bereits voll ausschöpfen können; unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Wohnort oder dem Einkommen ihrer Eltern. Zu einer solchen Politik gehöre zum einen eine flächendeckende Bereitstellung qualitativ hochwertiger, für alle zugänglicher Angebote im Frühbereich, ie zum Beispiel Kindertagesstätten, Tageseltern und Spielgruppen. Zum anderen bedürfe es aber auch weiterer Unterstützungsangebote in Erziehungsfragen, zum Beispiel Hausbesuchsprogramme oder Mütter-/Väterberatung, Angebote in Gesundheitsfragen, Familienzentren sowie kulturelle, sprachliche und gesellschaftliche Integrationsaktivitäten, Elternurlaube und einen familienfreundlichen Städtebau.

Das vorliegende Whitepaper der Jacobs Foundation zeigt zum ersten Mal für die Schweiz auf, dass ein Ausbau der Betreuungsangebote im Frühbereich über ein zehnjähriges Investitionsprogramm positive Auswirkungen auf die Schweizer Volkswirtschaft haben würde. Das Papier basiert auf den Ergebnissen einer Studie, die von BAK-Economics (Prof. Dr. Andreas Balthasar, Manuel Ritz) im Auftrag der Jacobs Foundation durchgeführt wurde. Die darin durchgeführten Simulationen wurden von verschiedenen Expertinnen und Experten aus Ökonomie und Politik begleitet, um einen qualitativ hochwertigen Prozess sicherzustellen.

BAK Economics hat die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Entwicklung eines bestimmten Teils einer umfassenden Politik der frühen Kindheit untersucht, nämlich den Ausbau von Kindertagesstätten (Kitas) und Tagesfamilien sowie von begleitenden Förderprogrammen für benachteiligte Kinder.

Ausgangspunkt bildet das gegenwärtige „Referenzszenario“ (67.000 Betreuungsplätze in Kitas und bei Tagesfamilien). Diesem Szenario wurden drei Ausbauszenarien gegenübergestellt:

  • „Investitionsszenario“: Über einen Zeitraum von zehn Jahren werden insgesamt 21.000 neue Plätze zur Verfügung gestellt und die Elternbeiträge für alle Betreuungsplätze (auch für die bereits bestehenden) reduziert. Den Staat würde dieses Szenario jährlich rund 794 Millionen Franken kosten.

Die Berechnungen des „Investitionsszenarios“ werden durch die Modellierung von zwei zusätzlichen Szenarien ergänzt:

  • Im „Szenario Qualitätsausbau“ wird davon ausgegangen, dass weitere Investitionen im Umfang von rund 535 Millionen Franken pro Jahr zu Gunsten der Qualität der Angebote im Frühbereich investiert werden, etwa zur Qualifikation des Betreuungspersonals.
  • Im „Szenario Förderprogramm Benachteiligte“ wird ergänzend angenommen, dass jene zehn Prozent der Kinder, die besonders benachteiligt sind, mittels eines begleitenden Förderprogramms zusätzlich speziell unterstützt werden. Von dieser Maßnahme sollen zum Beispiel Kinder aus einem bildungsfernen, sozial benachteiligten Umfeld oder Kinder mit Migrationshintergrund profitieren. Dafür würden rund 160 Millionen Franken pro Jahr eingesetzt werden.

Alle Ausbauszenarien gehen davon aus, dass die zusätzlichen Investitionen hälftig mittels einer Staatsverschuldung und einer Erhöhung der Einkommensteuer getragen werden. BAK Economics zeigt mit einer umfassenden, quantitativ fundierten Simulationsrechnung auf, wie sich die Ausbauszenarien konkret auf die Schweizer Volkswirtschaft auswirken. In die Analyse wurden alle relevanten Auswirkungen auf volkswirtschaftlicher Ebene miteinbezogen. Die Simultationsanalysen basieren auf einem makroökonomischen Gesamtmodell für die Schweizer Volkswirtschaft und berücksichtigen die Rückkopplungen im gesamtwirtschaftlichen System. Nicht eingeschlossen sind gesellschaftliche oder sozialpolitische Aspekte des Ausbaus, wie beispielsweise die Auswirkung eines Besuchs von Angeboten im Frühbereich auf die Lebenszufriedenheit oder auf die persönliche Entfaltung von Eltern und Kindern.

Wichtige Ergebnisse

Die Autoren der Studie fassen die wichtigsten Ergebnisse der Szenarien wie folgt zusammen:

1. Die Entlastung der Eltern von Betreuungsaufgaben würde die volkswirtschaftliche Produktion und das Wachstum steigern.

Ein Ausbau von Angeboten im Frühbereich könnte die Eltern bei der Betreuung ihrer Kinder zeitlich entlasten. Die dadurch gewonnene Zeit könne in die Aufnahme oder Erweiterung einer Erwerbstätigkeit fließen, was mit wichtigen volkswirtschaftlichen Effekten auf der Ebene der Eltern verbunden sei. Wenn der Vollaufbau des „Investitionsszenarios“ erreicht ist, werde das potenzielle Arbeitsvolumen um rund 9.700 Vollzeitstellen oder 0,2 Prozent der Beschäftigung in der Schweiz ansteigen. Dies könnte langfristig zu einer Erhöhung der Wirtschaftskraft pro Kopf und somit des Wohlstandes führen.

2. Die ausgebaute Erwerbstätigkeit der Eltern würde nicht nur den Lohn, sondern auch das Humankapital erhöhen.

Eltern (oft die Mütter) könnten früher oder in größerem Umfang erwerbstätig sein, zusätzliche Berufserfahrung sammeln und berufliche Kompetenzen gewinnen. Dies stärke ihre Stellung am Arbeitsmarkt und sei lohnrelevant. Die zusätzliche Berufstätigkeit könnte zudem zu einer Steigerung von Erfahrungen führen, was zu einer höheren Produktivität und nochmals höherem Lohn führt. Während kurzfristig durch das Programm also vor allem das Arbeitsangebot von Eltern mit Kindern steige, verbessere sich längerfristig auch deren Arbeitsproduktivität, mit der sich zugleich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft erhöht.

3. Die Förderung der Kompetenzen der Kinder würde sich in Form einer Bildungsrendite auszahlen.

Indem Kinder ein Angebot im Frühbereich besuchen, könnten sie ihre Kompetenzen und Fähigkeiten auf- und ausbauen. Das würde volkswirtschaftlich relevant werden, wenn die Kinder 15 bis 20 Jahre später ins Erwerbsleben eintreten. Die Autoren gehen davon aus, dass eine Stärkung der frühkindlichen Entwicklung auch das individuelle Kompetenzniveau erhöht: Mit einer qualifizierten frühkindlichen Betreuung könnte sowohl die schulische Leistung als auch der Bildungsabschluss verbessert werden. Zudem steige die Dauer der Bildung an: Mehr Bildung bedeute wiederum höhere Kompetenzen, wodurch auch das Einkommenspotenzial („Bildungsrendite“) wachse. Als Folge des Besuchs eines Angebots im Frühbereich könne von einem jährlichen Einkommensanstieg von 3,8 Prozent ausgegangen werden. Das würde auch die Wachstumskräfte der Volkswirtschaft und letztendlich den Wohlstand pro Kopf steigern.

4. Der Kompetenzerwerb der Kinder würde deren Gesundheits- und Sozialkosten senken.

Der Besuch eines Angebots im Frühbereich kann sich nach Ansicht der Autoren auch positiv auf verschiedene gesundheitsrelevante Faktoren auswirken. Das hänge unter anderem damit zusammen, dass Kinder, die von einem dieser Angebote profitiert haben, besser verstehen, worauf es bei einem gesundheitsförderlichen Leben ankommt. Zudem absolvierten Kinder, die Angebote im Frühbereich besucht haben, oftmals eine höhere Ausbildung, was sich ebenfalls positiv auf deren Gesundheitsverhalten und später auch auf deren Gesundheitskosten auswirken kann. Höhere Bildungsabschlüsse würden zudem dazu beitragen, dass die Kinder im Erwachsenenalter seltener Sozialhilfe beziehen müssen. Auch könne der Besuch von Angeboten im Frühbereich in vielen Fällen zur Reduktion von gesellschaftlich unerwünschtem (z.B. kriminellem) Verhalten beitragen. Wichtig sei in diesem Zusammenhang insbesondere der positive Einfluss guter Betreuung im Frühbereich auf die Persönlichkeitsentwicklung. Das alles wirke sich auf die Volkswirtschaft positiv aus. Allerdings kämen diese Zusammenhänge erst viele Jahre nach der Zeit zum Tragen, während der die Kinder Angebote im Frühbereich in Anspruch genommen haben.

5. Die Investition in den Ausbau des Frühbereichs würde das Wirtschaftswachstum merklich steigern.

Nach Ansicht der Autoren würde es sich insgesamt für die Schweizer Volkswirtschaft lohnen, das Angebot an Plätzen in Kindertagesstätten und bei Tagesfamilien auszubauen und dies mit einer Reduktion der Elterntarife zu verbinden. Das zeigten die Resultate der Berechnungen des „Investitionsszenarios“ deutlich. Langfristig, wenn alle Effekte wirksam sind und ein neues Gleichgewicht in der Volkswirtschaft erreicht werde, wäre das Schweizer Bruttoinlandsprodukt um rund 0,5 Prozent höher als ohne den Ausbau (3,4 Milliarden Franken). Diese Zahl entspricht in etwa der Bruttowertschöpfung, die in der Branche „Verlagswesen und Mediengewerbe“ aktuell pro Jahr in der gesamten Schweiz erzielt wird.

6. In gewissen Konstellationen würde sich die Investition für den Staat bereits nach gut zehn Jahren lohnen.

Die Kosten des hier untersuchten beispielhaften „Investitionsszenarios“ belaufen sich für den Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten auf 794 Millionen Franken pro Jahr. Diese zusätzlichen Investitionskosten würden gemäß der Modellannahmen mehr oder weniger hälftig zwischen den Steuerzahlenden (in Form erhöhter Einkommenssteuern) und dem Staat (in Form von befristeten Schulden) aufgeteilt. Kurzfristig müsste der Staat also erheblich investieren, indem er den Ausbau der frühkindlichen Betreuung mitfinanziert und die Betreuung stärker subventioniert als heute. Dies führe zunächst zu einem Defizit, doch profitiere der Staat über zusätzliche Steuereinnahmen im Laufe der Zeit immer stärker von der wirtschaftlichen Dynamik. Im beispielhaften Investitionsprogramm würden schon zehn Jahre nach Programmstart erste Überschüsse entstehen. Langfristig nehme die Verschuldung des Staates somit nicht zu, sondern die Staatsfinanzen profitierten letztlich von der Investition.

7. Investition in die Qualität würde sich besonders lohnen.

Die Autoren betonen, dass die Wirkung des Besuchs von Angeboten im Frühbereich maßgeblich von der Betreuungsqualität abhängt: Je höher die Qualität, desto besser sei dies für die Entwicklung der Kinder. Die Berechnungen von BAK Economics zeigen, dass es sich unter den getroffenen Annahmen auch aus volkswirtschaftlicher Sicht lohnt, in den Ausbau der Qualität der Betreuung („Szenario Qualitätsausbau“) zu investieren. Wenn mit einem Paket von Qualitätsmaßnahmen der Nutzen der familienexternen Betreuung für die Kinder gesteigert werde, könnten die positiven volkswirtschaftlichen Effekte insgesamt fast verdoppelt werden. Im langfristigen Gleichgewicht läge das Bruttoinlandsprodukt um rund 3 Milliarden Franken höher als im „Investitionsszenario“ (6,5 Milliarden Franken). Der zusätzliche Impuls falle auch deswegen so groß aus, weil alle Kinder, die Angebote im Frühbereich besuchen, von der Qualitätsverbesserung profitieren könnten. Da sich der Qualitätsausbau hauptsächlich mit dem Erwerbseintritt der Kinder volkswirtschaftlich niederschlägt, manifestierten sich die Vorteile allerdings erst langfristig.

8. Gezielte Unterstützung von besonders benachteiligten Kindern würde sich ebenfalls auszahlen.

Nach den Berechnungen wäre es volkswirtschaftlich ebenso lohnend, die 10 Prozent der besonders benachteiligten Kinder gezielt mittels eines begleitenden Förderprogramms zu unterstützen (zum „Investitionsszenario“ käme also das „Szenario Förderprogramm Benachteiligte“ hinzu). Die Annahme ist, dass sich bei den Kindern, die davon profitieren, der Nutzen in Form der Bildungsrendite gegenüber dem „Investitionsszenario“ deutlich erhöht. Im langfristigen Gleichgewicht könnte auf diese Weise das Bruttoinlandsprodukt um 1,5 Milliarden Franken höher ausfallen als im „Investitionsszenario“ (statt 3,4 Milliarden 4,9 Milliarden Franken). Trotz aller Unsicherheiten in den Annahmen und in den Berechnungen mache die Simulation sehr deutlich, dass die positiven volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Investitionsprogramms durch eine Ergänzung von Angeboten für besonders benachteiligte Kinder nochmals deutlich gesteigert werden könnten.

Fazit

Die Wissenschaftler betonen, dass es sich aus volkswirtschaftlicher Sicht auf jeden Fall lohnt, in den Ausbau der frühkindlichen Betreuung und Bildung zu investieren. Die Berechnungen von BAK Economics zeigten klar, dass der Ausbau von Angeboten im Frühbereich einen erheblichen positiven Effekt auf das Schweizer Bruttoinlandsprodukt hat. Dies gelte von Anfang an und auch unter Berücksichtigung der Kosten des Programmes.